Leseempfehlung: "Die Möglichkeit von Glück" von Anne Rabe

Shownotes

Ein Buchtipp von: Antje Siebert, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Städtischen Bibliotheken Dresden im Projekt Dialog in Deutsch.

Titel: Die Möglichkeit von Glück

Autorin: Anne Rabe, Klett-Cotta, Stuttgart 2023

Die vorgestellte BücherRausch-Folge: "Bibliothek früher und heute: Von der Bücherei zum "Dritten Ort" Folge 10 der 3. Staffel.

Die Musik dieser Folge:

Titelmusik: Please, Listen Carefully von Jahzzar

Musik in dieser Folge von Blue Dot Sessions

Produktion: Aufgenommen und produziert von Marcus Anhäuser, Dresden, 2024

Idee und Konzept: Marcus Anhäuser

Alle Folgen des Podcast finden sich auch auf der Webseite der Städtischen Bibliotheken Dresden.

Mit Unterstützung der Städtischen Bibliotheken Dresden.

Transkript anzeigen

00:00:00: Was mir an dem Buch gefällt, ist das, was es gemacht hat mit mir und auch mit meinen Freundinnen.

00:00:07: Es hat bei mir ganz viele Bilder hervorgeholt, was die DDR betrifft.

00:00:12: Und manche haben dann auch geschildert, ich musste das erstmal weglegen.

00:00:17: Ich konnte nicht weiterlesen.

00:00:19: Das fand ich faszinierend, dass ein Buch so etwas erreicht.

00:00:22: Hier ist der Bücherrausch.

00:00:23: Please listen carefully.

00:00:25: Hallo und willkommen zur neuen Folge des Bücherrausch-Podcast.

00:00:35: Schön, dass ihr wieder dabei seid.

00:00:37: Dieses Mal lernen wir ein Buch kennen, das vor allem hier im Osten für einige Aufregung gesorgt hat.

00:00:43: Die Autorin versucht in einem Roman zu ergründen, ob die besondere Entwicklung hier in den östlichen Bundesländern

00:00:50: etwas mit einer verdrängten Gewaltvergangenheit zu tun hat, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.

00:00:57: Es ist ein Lieblingsbuch einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Städtischen Bibliothek in Dresden,

00:01:03: die nicht nur von dem Roman, sondern auch von der Autorin fasziniert ist.

00:01:07: Übrigens, wenn ihr uns mitteilen wollt, wie ihr das Buch und die Gewaltthese der Autorin findet,

00:01:14: hinterlasst uns doch einfach einen Kommentar auf der Podcast-Seite.

00:01:18: Ich wünsche euch viel Spaß beim Zuhören. Mein Name ist Marcus Anhäuser.

00:01:22: Mein Name ist Antje Siebert. Ich bin jetzt 43 Jahre alt und arbeite als Lehrerin,

00:01:40: als Gymnasiallehrerin für Französisch und Ethik. Und ich lebe hier in Dresden.

00:01:45: Meine Verbindung zur Bibliothek ist eben, dass ich bei Dialog in Deutsch mithelfe.

00:01:50: Das ist ein ganz tolles Forum. Da sind immer moderierende Paare und die machen sich so ein bisschen Gedanken,

00:02:00: wie Gäste unseres Landes eine Stunde lang Deutsch sprechen können.

00:02:06: Also es ist kein klassischer Unterricht, sondern man ist da hier in der Zentralbibliothek zum Beispiel mittwochs,

00:02:12: 17 bis 18 Uhr, beisammen und dann überlegt man sich irgendwelche Spiele oder Konversationen, irgendwas.

00:02:21: Und dann wird da Deutsch gesprochen. Und das ist ganz toll. Also es bereichert mich unheimlich,

00:02:28: weil man dann eben sieht, da sind russische Menschen, ukrainische, syrische, mexikanische.

00:02:37: Und die kommen und reden da eine Stunde Deutsch, was ja so eine unheimlich schwere Sprache ist.

00:02:43: Und das macht richtig viel Spaß.

00:02:45: Ich würde gerne Anne Rabe's "Die Möglichkeit von Glück" vorstellen.

00:02:54: Also "Die Möglichkeit von Glück", das ist ein Buch, das habe ich in meinem Buchclub mit meinen Freundinnen zusammen gelesen

00:03:03: und bin aber eigentlich darauf aufmerksam geworden, weil mein Moderationskollege von Dialog in Deutsch,

00:03:09: der hatte mich mal mit zu einer Lesung genommen im Hygienemuseum.

00:03:13: Und da ging es so um östliche Geschichten. Da war noch ein anderer Schriftsteller mit dabei.

00:03:19: Und der Moderator dieser Runde da, der hatte unheimliches Nasenbluten, ist dann weggefallen.

00:03:26: Der konnte wirklich nicht weitermachen. Und da hat die Anne Rabe das dann in die Hand genommen.

00:03:32: Und das fand ich unheimlich beeindruckend.

00:03:34: Also bei mir stand da gar nicht erst mal, als ich sie wahrgenommen habe, das Buch im Fokus, sondern die Person.

00:03:40: Und dann habe ich mit dem Kollegen natürlich darüber gesprochen und die Anne Rabe hatte auch Stellen vorgelesen.

00:03:46: Und da geht es halt um die DDR-Geschichte. Das ist ja jetzt gerade in der Literatur ganz à la mode.

00:03:53: Das fand ich unheimlich spannend, weil sie so den Rahmen oder ja, den Rahmen gesetzt hat, könnte man so sagen,

00:04:01: dass sie der Meinung ist, dass die Gewalterfahrungen in der DDR oder zumindest ist das meine Lesart,

00:04:07: dass die Gewalterfahrungen in der DDR dazu geführt haben, was jetzt gerade politisch bei uns passiert.

00:04:13: Das Buch ist 2023 erschienen und macht das aber wirklich als Thema auf.

00:04:20: Also das Gewalt in der DDR, das Nichtsprechen über die ganze Geschichte, die davor passiert ist

00:04:27: und dann auch das Schweigen in den Familien, dass das zu unserer aktuellen Situation geführt hat.

00:04:32: Nationalsozialismus gab es ja dann plötzlich gar nicht mehr in der DDR.

00:04:36: Die ganzen Männer, die zurückgekehrt sind, waren verstört, haben nicht darüber gesprochen.

00:04:42: Politisch wurde es nicht gefordert, gesellschaftlich schon gar nicht.

00:04:45: Wer möchte hören, wie sein Vater da irgendwelche Frauen vergewaltigen musste oder irgendwas.

00:04:52: Und das nehme ich auch so wahr, dass das Schweigen oder die Kommunikation hier im östlichen Teil Deutschlands

00:04:59: wirklich ein Problem ist, weil das dann vielleicht so, das ist die Deutung des Buches, politisch erforderlich war.

00:05:06: Auch mit der Stasi und so weiter.

00:05:16: Die Anne Rabe, die ist 1986 in Wismar geboren und hat somit nicht mehr viel von der DDR mitbekommen.

00:05:24: Die war dann drei, als die Wende kam und das wird ihr jetzt vorgeworfen.

00:05:30: Also wenn man die Kritiken dazu liest oder wie das Buch jetzt angenommen, wahrgenommen wird,

00:05:35: dann geht es eigentlich immer darum, die hat ja gar keine Ahnung, was erlaubt die sich darüber zu schreiben.

00:05:41: Sie ist Dramaturgin, schreibt auch Texte, also Musik für eine Band.

00:05:47: Und es ist ihr gelungen, mit dem Buch dann auch für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen zu werden.

00:05:53: Sie ist Mitglied des PEN Berlin und da wohl auch sehr aktiv.

00:05:59: Also ich glaube, sie vermeidet es ein bisschen, Privates da so veröffentlichen zu lassen.

00:06:06: Vielleicht auch, weil sie so angegriffen wird, keine Ahnung.

00:06:09: Und sie ist dann auch aufgrund des Buches durch den östlichen Teil Deutschlands getourt.

00:06:15: Also mir hat eine Freundin erzählt, dass sie auch in Bautzen zu einer Lesung war

00:06:19: und wird da halt wirklich immer wieder angegriffen.

00:06:22: Also nicht schlimm, ich glaube, das wird unterbunden,

00:06:25: aber so, dass sie sich rechtfertigen muss und ihre Lesart der DDR-Geschichte.

00:06:31: Die Möglichkeit von Glück, das ist ein autobiografischer Roman, aber sie sagt ganz klar,

00:06:47: das ist nicht meine Geschichte und hat auch die Form des Romans gewählt,

00:06:53: um so ein bisschen mehr Freiheit zu haben.

00:06:55: Also sie hat, glaube ich, eine sehr intensive Recherche betrieben.

00:06:58: Das wird dann auch im Buch so ein bisschen mit angesprochen,

00:07:01: vermeidet aber eigentlich, das so als Sachbuch erscheinen zu lassen.

00:07:06: Und das ist das Problem, wenn man das liest, dass viele Leute, auch meine Freundinnen im Buchclub,

00:07:13: dann so eigentlich sagen, nee, das ist aber nicht richtig, das war bei mir ganz anders.

00:07:18: Wie kann die nur? Und ich sage dann, aber es ist halt ein Roman.

00:07:23: Wenn sie das so sieht, dann sieht sie das so. Dann müssen wir ihr das auch zugestehen

00:07:28: und haben dann eben unser anderes Verständnis. Das ist ganz interessant.

00:07:32: Die grobe Geschichte ist, dass die Protagonistin, Stine, hat mittlerweile zwei Kinder

00:07:50: und es springt immer so hin und her. Und ich würde sagen, aufgrund dieser zwei Kinder

00:07:55: fängt sie an, sich so mit ihrer Familie und der Geschichte auseinanderzusetzen.

00:08:00: Sie hat eine Mutter, die sehr gewaltvoll in der Kindheit war

00:08:04: und mit der sie eigentlich nicht mehr sprechen möchte, weil vieles dann eben hochgekommen ist.

00:08:11: Die Mutter möchte aber ganz eng bei den Enkeln sein.

00:08:15: Und darüber entspinnt sich dann bei der Stine so eine Recherche über ihren Opa,

00:08:21: weil sie sich eben fragt, warum ist meine Mutter, wie sie ist?

00:08:24: Das ist ja eine Frage, die wir uns aktuell auch alle so stellen.

00:08:27: Und was ist da passiert, dass in meiner Familie nicht gesprochen wird,

00:08:33: dass meine Mutter so gewalttätig uns Kindern gegenüber ist und macht sich dann so auf in Archiven

00:08:40: und mit irgendwelchen Ämtern zusammen die Geschichte ihres Opas Paul zu recherchieren

00:08:46: und findet dann einiges raus. Der war in der NS-Zeit eben auch aktiv, nationalsozialistisch,

00:08:55: in der DDR-Zeit wohl auch. Die Eltern werden so als "rote Socken" bezeichnet

00:09:00: und das wird dann immer so sprinkelartig da eingebaut, so dass sich dann am Ende irgendwie eine Geschichte ergibt.

00:09:08: Sie spricht ganz viel mit ihrem Bruder Tim, der ist weggezogen, der hat sich davon gemacht.

00:09:13: Und sie telefonieren dann immer mal und dann kommen die Geschichten so hoch,

00:09:17: auch mit ihren ehemaligen Freundinnen. Und das ist eigentlich so die Rahmenhandlung, kann man sagen.

00:09:25: Also das, was sie sich denkt und dann gibt es eben einen Exkurs über das, was sie rausgefunden hat.

00:09:31: Und dann kommt sie wieder zu irgendeiner Erinnerung zurück, so springt sie da hin und her.

00:09:35: [Musik]

00:09:52: Also es sind auch immer relativ kurze Kapitel, so dass man durch die Kapitel auch ein bisschen geleitet wird.

00:09:58: Jetzt weiß man, okay, wir sind wieder in der Vergangenheit, aber die Handlungszeit ist die Jetztzeit.

00:10:05: Also die Protagonistin lebt in Berlin und fährt dann auch mal in ihre Heimat zurück.

00:10:11: Das wird auch alles gar nicht so klar angesprochen, was die Heimat ist.

00:10:14: Das denkt man sich dann durch Werft und Ostsee und so weiter.

00:10:19: Ja, die Stine ist in der Jetztzeit eine linke, kluge Frau, die eben zwei Kinder hat, einen Mann dazu

00:10:31: und sonst nicht so ganz viel über sich verrät.

00:10:34: Vielleicht auch, um diese autobiografischen Züge nicht so extrem ausufern zu lassen.

00:10:41: Und die war besonders im Visier der Mutter und macht sich eben auch Gedanken über die Oma und den Opa und damit dann auch über sich.

00:10:55: Also wenn meine Mutter so war, was bedeutet das für mich, für meine Erziehung der Kinder?

00:11:00: Und muss dann eben auch für sich immer ganz klar sagen, ich möchte meine Kinder nicht schlagen, ich möchte das ausdiskutieren und so weiter.

00:11:08: [Musik]

00:11:22: Die Mutter war Torterzieherin in der DDR, also mit Kindern tätig und verprügelt dann ihre eigenen Kinder.

00:11:30: Das ist schon ziemlich schrecklich, wenn man das dann so liest und hat wohl auch eine Weile in so einem Kinderwerkshof gearbeitet.

00:11:40: Kinderwerkshöfe sind überall in der Gegend. Manchmal hat man jetzt noch die Gebäude.

00:11:46: Dort wurden Kinder hingeschickt von zum Beispiel Eltern, die politisch andersdenkend waren oder Kinder, die als schwer erziehbar galten.

00:11:58: Der Hintergedanke ist höchstwahrscheinlich aber, dass die Eltern bestraft werden sollten für ihr nicht regelkonformes Verhalten.

00:12:06: Und das ging dann dort auch sehr grausam zu.

00:12:09: [Musik]

00:12:34: Beim Personal gibt es noch den Vater und der ist auch so eine ganz interessante Figur, weil er eigentlich kaum stattfindet.

00:12:42: Also der Vater erlebt mit, wie gewaltvoll die Mutter ist mit den Kindern und ist bis auf eine Situation nicht in der Lage, da irgendwas entgegenzusetzen.

00:12:51: Also der kommt einem richtig vor wie so ein Waschlappen, der da irgendwie rumhängt und mit seinen Kindern wenig zu tun hat,

00:12:59: obwohl es ersichtlich ist, dass der zum Beispiel die Tochter, die Stine, sehr liebt.

00:13:04: Aber dem fehlt die Kraft, sich dagegen die Frau zu behaupten, die dann eben so wie das Oberhaupt ist.

00:13:12: Und das finde ich ist auch interessant, weil Männerfiguren ja eigentlich anders wahrgenommen werden, anders sind.

00:13:21: Und dort das eben mal so gezeigt wird, wie es ja auch in vielen Familien ist.

00:13:25: Die Frau gibt da irgendwie den Ton an.

00:13:29: Also wenn man sich das so überlegt, die Frauen haben dann eben nach dem Krieg das Land mit aufgebaut

00:13:34: und in der DDR wurde das dann zumindest so honoriert, dass die Frauen arbeiten durften.

00:13:38: Die mussten auch nicht den Mann fragen, ob sie ein Konto führen dürfen und so weiter.

00:13:43: Das wiederum bringt uns ja vielleicht in die Gegenwart und in die Erklärung, warum jetzt gerade so viel los ist,

00:13:51: dass die Männer da nicht viel zu sagen hatten und sich vielleicht jetzt eben ein anderes Feld suchen, wo sie was zu sagen haben.

00:13:57: Aber das ist natürlich nur mein Verständnis davon.

00:14:01: Wenn das jetzt ein Mann hören würde, ein DDR-Mann, der würde sagen, sag mal spinnst du, was ist denn los, wie kommst du da rauf.

00:14:07: Aber es war tatsächlich in der DDR so, die Frauen sind arbeiten gegangen, haben sich um den Haushalt, um die Kinder gekümmert,

00:14:14: dadurch natürlich ein ganz anderes Selbstbewusstsein gehabt und der Mann hatte dann so ein bisschen das zu machen.

00:14:19: Also so habe ich auch viele Familien gesehen in der DDR.

00:14:22: Kann ganz anders bei vielen anderen gewesen sein, aber das, was ich kenne, ist tatsächlich so.

00:14:42: Was mir an dem Buch gefällt, ist das, was es gemacht hat mit mir und auch mit meinen Freundinnen.

00:14:49: Es hat bei mir ganz viele Bilder hervorgeholt, was die DDR betrifft.

00:14:55: Ich hatte eine wunderbare Kindheit in der DDR. Also alles, was hier beschrieben wird, kann ich überhaupt nicht teilen.

00:15:01: Ich habe überhaupt keine Gewalt erfahren, auch im Umkreis habe ich das nicht wahrgenommen.

00:15:07: Aber ich weiß, dass es das gab, natürlich.

00:15:12: Also so DDR-Erinnerungen kamen hoch, das ist dann auch bei meiner Textstelle, da werden so Geräte beschrieben, die wir hatten

00:15:21: oder Situationen in der Schule und so. Und da dachte ich, ach ja, stimmt, das war, das mochte ich ganz gerne.

00:15:28: Und dann eben die Diskussion darüber.

00:15:31: Ich habe das Buch meiner Oma geschenkt, weil meine Oma ist politisch schon anders drauf als ich.

00:15:38: Und wir streiten dann eigentlich immer, wenn wir miteinander sprechen.

00:15:43: Und da habe ich gedacht, Mensch, wir bräuchten mal was, wo wir gemeinsam darüber reden können.

00:15:47: Und sie sagte gleich so, ah ne, habe ich keine Lust. Und dann hat sie doch reingelesen.

00:15:52: Und rief mich dann am nächsten Tag an und schrie mich am Telefon zusammen, was sich diese Person doch erlaubt.

00:16:00: Die hat doch überhaupt keine Ahnung. Es steht natürlich auf dem Cover drauf, wie alt die Schriftstellerin ist, die Anne Rabe.

00:16:07: Die hat doch überhaupt keine Ahnung. Und so war das alles nicht.

00:16:11: Und das fand ich Wahnsinn. Meine Oma hat es nicht weitergelesen.

00:16:15: Ich habe dann ihr Exemplar bekommen und habe so Anmerkungen gefunden.

00:16:20: Das fand ich ganz interessant. Aber sie hat sich geweigert, das weiterzulesen.

00:16:24: Und das muss ein Buch auch erst mal schaffen.

00:16:29: [Musik]

00:16:44: Und dann, was es halt auch mit meinen Freundinnen gemacht hat im Buchclub,

00:16:49: also wir hatten uns da geeinigt und ich glaube, wir waren zu sechs, die das Buch gelesen haben.

00:16:54: Und manche haben dann auch geschildert, ich musste das erst mal weglegen. Ich konnte nicht weiterlesen.

00:17:01: Ging zum Beispiel auch um Hebammen in der DDR.

00:17:04: Und meine Freundinnen haben alle Geburtserfahrungen und haben dann gemerkt,

00:17:09: das, was da beschrieben wurde, ist jetzt nicht mehr in der Prägnanz,

00:17:14: aber dennoch irgendwie noch aktuell bei Geburten von vor zehn Jahren oder so.

00:17:20: Also mit Frauen wird wirklich nicht zimperlich umgegangen.

00:17:24: Und da konnte ich dann erst mal nicht weiterlesen.

00:17:27: Und das fand ich faszinierend, dass ein Buch so etwas erreicht.

00:17:31: Und wir haben dann ganz intensiv schon während des Lesens darüber gesprochen

00:17:35: und dann auch hinterher im Buchclub.

00:17:38: Da kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste, dann eben auch in die Diskussion,

00:17:42: darf jemand, der gar keine Ahnung in der Form hat, darf jemand über die DDR berichten,

00:17:49: ist es wahr, dass man die Gewalt, Exzesse, die politische Orientierung des Ostens damit erklären könnte und so weiter.

00:17:58: Und das hat uns ganz viel gegeben.

00:18:01: Und deswegen habe ich das Buch jetzt auch ausgewählt, weil es den Diskurs unheimlich angeregt hat.

00:18:07: [Musik]

00:18:23: Die Anna Rabe hat in dem Buch hat sie schon, also die Stine recherchiert ja über ihren Opa.

00:18:30: Und das, was da so rauskommt, das wird relativ nüchtern im Buch mit eingeflochten und dann so als Fakten berichtet.

00:18:40: Und meine Freundinnen sagten dann teilweise eben, nee, das war nicht so.

00:18:46: Ich habe das noch mal nachrecherchiert oder irgendwelche Autoren, Journalisten, sonst was,

00:18:51: haben das ja dann im Nachgang auch gemacht.

00:18:53: Und im Buchclub hatte ich eben dann auch eine Freundin, die gesagt hat,

00:18:57: das kann man dann aber nicht behaupten, wenn es halt nicht stichhaltig ist.

00:19:01: Wohingegen dann andere gesagt haben, na doch, es ist ein Roman.

00:19:05: Und wenn das ihre Realität ist, und es geht ja auch um die Lesart der DDR,

00:19:09: wenn das ihre Realität ist, dann kann sie das doch so präsentieren, auch wenn sie da noch gar nicht gelebt hat.

00:19:15: Wenn ihre Sicht durch ihre Familie darauf diese ist, dann steht ihr das zu.

00:19:21: Es ist ein Roman.

00:19:23: Und ja, das war halt auch ganz spannend, wie geht man damit um?

00:19:28: Ist eben auch die Frage, wie habe ich die DDR wahrgenommen, wie darf ich die wahrnehmen,

00:19:34: wie muss ich die wahrnehmen?

00:19:36: Dafür klärt man ja im Nachhinein unheimlich viel.

00:19:39: [Musik]

00:19:53: Die Stelle, die ich lesen möchte, zeigt so ganz klar, wie brutal die Mutter eigentlich war.

00:20:01: Also es ist jetzt keine Stelle, bei der man sagt, ach, das ist aber schön,

00:20:04: sondern eine Stelle, die zum einen eben so ein DDR-Gerät, nämlich eine Schleuder präsentiert,

00:20:10: dieses Gerät, was die Wäsche getrocknet hat.

00:20:13: Was für mich halt sofort ganz viele Bilder aufmacht.

00:20:16: Die Schleuder waren Einzelgerät, das durfte ich als Kind auch manchmal machen.

00:20:20: Und man musste die Schleuder aber richtig festhalten, weil die wirklich unheimlich geschleudert hat.

00:20:25: Und da wackelte dann das ganze Gerät hin und her.

00:20:27: Man hat da die Wäsche reingemacht, dann den Deckel drauf, und dann musste man die festhalten.

00:20:32: Und das beschreibt die Stine auch, wie sie mit ihrem Bruder geschleudert hat,

00:20:38: und dass dann schief ging und was daraus erwächst.

00:20:41: Legt man sich auf die Schleuder, kitzelt es im ganzen Körper.

00:20:47: Timmy lachte und ich auch. Schleudern war unsere Lieblingsaufgabe.

00:20:51: Rums. Die Badezimmertür sprang auf.

00:20:54: Was ist hier los?

00:20:55: Timmy ließ verschreckt die Schleuder los und so glitt sie mir aus der Hand.

00:20:57: Das Wasser tropfte neben den Eimer, aber ich löste schnell den Hebel über der Luke, um den Motor abzuwürgen.

00:21:04: Wütend zog Mutter den Stecker aus der Wand.

00:21:06: "Jetzt muss ich euch leider verhauen", sagte sie, und verließ das Bad.

00:21:11: Wir standen jeder an einem der Waschbecken und warteten.

00:21:14: Ich sagte zu Tim, "Du darfst nicht weinen, sonst freut sie sich."

00:21:19: Als Mutter zurückkam, bekam zuerst mein Bruder seine Strafe.

00:21:24: Die große weiche Frau begann mit ihrer Hand auf seinen Hintern einzuschlagen.

00:21:29: Timmy heulte natürlich gleich los.

00:21:31: Er war erst drei und hatte sich noch nicht so im Griff.

00:21:35: Ich wollte, dass er damit aufhört, und blickte streng zu ihm rüber.

00:21:39: Weil er den Kopf in den Nacken legte und ihm die Tränen und die Rotze in den Rachen liefen, verschluckte er sich,

00:21:45: was sein Weinen aber nur kurz unterbrach.

00:21:48: Sobald er wieder Luft bekam, begann er wieder zu heulen.

00:21:52: Erst als Mutter nachließ, hörte er damit auf.

00:21:55: "Hast du das jetzt verstanden?"

00:21:57: Tim nickte und lief aus dem Bad.

00:22:00: "Putz dir die Nase!"

00:22:02: "Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen."

00:22:07: Mit den Händen hielt ich mich am Waschbecken fest und stützte meinen Kopf darauf.

00:22:12: So konnte ich mir den Mund zuhalten und aufpassen, dass ich nicht mit den Zähnen an die Keramik knallte.

00:22:18: Davor hatte ich Angst, denn das tat fürchterlich weh.

00:22:21: Mutter schlug fester, weil ich nicht weinte.

00:22:24: Sie schlug fester und fester.

00:22:26: Irgendwann musste sich dieses Kind doch ergeben.

00:22:29: Mutter schlug, bis sie nicht mehr konnte.

00:22:32: Mutter schlug, bis sie nicht mehr konnte.

00:22:34: Es war auch ein bisschen dumm von mir.

00:22:36: Hätte ich früher nachgegeben, würde es jetzt nicht so wehtun.

00:22:40: Sie fragte mich nicht, ob ich es verstanden hätte.

00:22:44: Und dann reizt sich da die nächste Gewalterinnerung ein, und dann noch eine.

00:22:50: Und das dann so hintereinander zu lesen, das ist echt schlimm.

00:22:54: Aber sie lernt damit umzugehen, was man sich nicht vorstellen kann,

00:22:58: dass ein Kind so etwas lernen sollte, aber macht sie dann eben.

00:23:01: [Musik]

00:23:18: Deswegen fand ich die Stelle so eindrücklich.

00:23:21: Weil die Schleuder da vorkamen, meine DDR-Erinnerung.

00:23:25: Und weil hier so ganz nüchtern beschrieben wurde, jetzt muss ich euch verhauen.

00:23:31: Die Kinder denken sich ja, okay, ist so.

00:23:35: Und dann werden sie verhauen, und dann ist alles normal, und es geht weiter.

00:23:40: Und das so in wenigen Sätzen zu lesen und sich das so vorzustellen,

00:23:45: was das mit den Kindern macht, vielleicht auch mit der Mutter.

00:23:49: Die denkt ja am Ende, ich muss das tun, damit meine Kinder gute Menschen werden oder sowas.

00:23:55: Das ist furchtbar.

00:23:57: [Musik]

00:24:11: In dem Buch geht es auch als Subtext um die schwarze Pädagogik.

00:24:17: Unter der mussten viele leiden.

00:24:20: So war auch die Kindererziehung ein bisschen.

00:24:23: Und auch so kann man Nazis kreieren, würde ich sagen.

00:24:27: In der Stelle, die ich vorgelesen habe, hieß es ja, wann gibt denn das Kind endlich auf?

00:24:33: Und es ist ja auch wirklich in der DDR so gewesen, dass der Ansatz auch teilweise war,

00:24:40: man muss Kinder brechen, um denen dann was beibringen zu können.

00:24:44: Auch in der Schule.

00:24:46: Auch wieder ganz furchtbar, wenn man sich das so vorstellt.

00:24:49: Aber so hat es ja teilweise wirklich funktioniert, auch mit den Krippen.

00:24:53: Um in eine Krippe gehen zu dürfen, musste das Kind mit einem Jahr sauber sein.

00:24:58: Man durfte nicht mehr einpullern.

00:25:00: Das Kind musste in der Lage sein, schon wie so ein Dreijähriges zu agieren.

00:25:04: Und um das hinzukriegen, wurde das dann halt abgeduscht,

00:25:08: um halt so eine Konditionierung zu erreichen.

00:25:11: Das habe ich auch bei Freundinnen noch gesehen, wie sich das dann auch so fortsetzt.

00:25:15: Das ist ganz schlimm.

00:25:17: Und um das zu verstehen für sich selber, ist so ein Buch ganz gut geeignet.

00:25:23: [Musik]

00:25:37: Weil ich nicht finde, dass die Anarabe den Zeigefinger erhebt und sagt,

00:25:43: so war das und das ist ganz schlimm und das darf nie wieder sein.

00:25:47: Sondern sie dokumentiert im Prinzip nur durch die Stine und deren Dokumentation.

00:25:54: Und was wir dann damit machen, das ist so ein bisschen unsere Sache.

00:25:58: Und das fand ich auch ganz toll an dem Buch.

00:26:00: Also ich habe da keinen Zeigefinger wahrgenommen.

00:26:02: Und meine Freundinnen soweit auch nicht.

00:26:04: [Musik]

00:26:17: Ich mag die Sprache. Die ist wirklich schnörkellos.

00:26:20: So habe ich Anarabe auch wahrgenommen.

00:26:22: Ganz klar, präzise, direkt nach vorne irgendwie.

00:26:27: Und so liest sich das.

00:26:29: Ich hatte, als ich angefangen habe, das Buch zu lesen, eigentlich gar keine Zeit.

00:26:33: Habe es dann aber trotzdem zur Hand genommen.

00:26:35: Und man liest und man ist in der Geschichte drin und will wissen,

00:26:38: was passiert jetzt weiter und hört nicht auf.

00:26:42: Und das mag ich bei Büchern sehr gerne.

00:26:44: [Musik]

00:26:53: Also ich würde es eigentlich allen empfehlen, die sich damit ein bisschen auseinandersetzen wollen.

00:26:59: Also es ist kein Buch, was man für ein Wohlgefühl liest.

00:27:03: Es wäre jetzt auch kein Buch, was ich mit auf eine Insel nehmen würde.

00:27:07: Weil es keinen Spaß macht in dem Sinne.

00:27:11: Es ist aber wirklich gut geschrieben und regt eben dazu an,

00:27:16: sich zum Beispiel mit seinen Eltern auszutauschen.

00:27:20: Explizit mit der Mutter, aber auch mit seinen Freunden, Freundinnen,

00:27:25: die noch was von der DDR hatten.

00:27:28: Also eigentlich alle, die DDR-Erfahrungen haben, denen würde ich das empfehlen.

00:27:34: Wenn sie die Kraft haben oder die Lust an Auseinandersetzung.

00:27:37: [Musik]

00:27:44: Man muss hier keine Triggerwarnung vorher irgendwie hinschreiben.

00:27:48: Aber ich kann mir vorstellen, wenn man zum Beispiel von der Mutter oder vom Vater

00:27:53: immer wieder geprügelt wurde und liest dann so ein Buch, dass das ganz viel aufmacht,

00:27:58: wofür man zu der Zeit vielleicht nicht bereit ist.

00:28:01: Also das könnte man so ein bisschen als Warnung darstellen.

00:28:05: [Musik]

00:28:22: Es heißt, das würde ich gerne noch sagen, es heißt ja "Die Möglichkeit von Glück".

00:28:26: Und wir haben dann auch überlegt, warum heißt es denn so?

00:28:29: Weil der Titel im Buch jetzt nicht vorkam.

00:28:32: Und wenn ich mich hier so sprechen höre über das Buch, klingt es ja wirklich schlimm.

00:28:37: Also als würde nur Gewalt vorgestellt, dargestellt werden.

00:28:41: Als wäre die DDR ganz schlimm gewesen und so weiter.

00:28:45: Wir haben uns das dann so gedeutet, dass es am Ende,

00:28:50: wenn man sich damit auseinandersetzt mit seinen Eltern, mit der Vorgeneration,

00:28:56: dass man dann die Möglichkeit hat, so bestimmte Wunden zu heilen,

00:29:01: bestimmte Sachen hinter sich zu lassen und da die Möglichkeit von Glück hat.

00:29:06: Und das versucht die Stine dann auch. Also für die ist dann irgendwann gut.

00:29:11: Sie sagt sich, ich will mich eigentlich mit meiner Mutter nicht mehr auseinandersetzen

00:29:16: im Sinne von mit der streiten oder so.

00:29:20: Ich möchte, dass die bestimmte Regeln einhält, was meine Kinder betrifft.

00:29:24: Und dann versuche ich da so gelassen zu bleiben.

00:29:27: Und das ist dann so ein schöner Ausblick, dass das gelingen kann.

00:29:31: [Musik]

00:29:41: Das war Antje Siebert, die uns den Roman "Die Möglichkeit von Glück"

00:29:45: von Anna Rabe aus dem Jahr 2023 vorstellte.

00:29:49: Die Infos zum Buch stelle ich euch wie immer in die Show Notes.

00:29:52: Den Roman gibt es sicher auch in eurer Bibliothek, egal wo ihr diesen Podcast hört.

00:29:58: Und apropos Vergangenheit, wenn ihr mal wissen wollt, wie es früher so war in den Bibliotheken,

00:30:03: hört doch mal in Folge 10 der dritten Staffel rein.

00:30:07: Da erzählen euch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

00:30:10: wie sie die Büchereien der 70er und 80er Jahre erlebt haben

00:30:14: und was sich seitdem alles verändert hat.

00:30:17: Und eine Bibliothekarin hinterm Tresen.

00:30:21: Und für mich war das eine ganz strenge Frau.

00:30:25: Natürlich trug die Brille und die stempelte da auch immer eine Karte.

00:30:29: Und ich war und bin eine Langsamleserin.

00:30:33: Das Stempeln der Bibliothekare dort muss zu der Zeit noch so gewesen sein,

00:30:37: dass man Nutzer, zumindest wenn die jetzt im Kinderalter waren,

00:30:42: jetzt nie alleine auf die Bücher losließ, obwohl das ja eine Freihandbibliothek war

00:30:46: und das auch möglich gewesen wäre.

00:30:48: Ich wollte unbedingt Jacqueline lesen, die Bücher standen da.

00:30:51: Die Bibliothek, die ich besucht habe mit etwa vier, fünf Jahren vielleicht,

00:30:55: war eine ganz kleine Gemeindebibliothek und an die kann ich mich sehr gut erinnern,

00:30:59: weil obwohl sie sehr klein war, erschien die mir wie so eine Art Tempel,

00:31:05: ein Büchertempel, also ein ganz besonderer Raum,

00:31:09: der besonders roch, nach Büchern natürlich.

00:31:12: In den Gesprächen zeigt sich, eine öffentliche Bibliothek von heute

00:31:16: hat nicht mehr viel mit den Büchereien von früher zu tun.

00:31:19: Und doch gibt es eine Konstante, die nach wie vor entscheidend ist

00:31:23: und wohl auch immer bleiben wird.

00:31:25: Das war ein Ausschnitt aus Folge 10 der dritten Staffel

00:31:28: über Vergangenheit und Gegenwart der Bibliotheken.

00:31:31: Den Link zur Folge findet ihr in den Show Notes.

00:31:34: Und das war Folge 6 des Bücherrausch-Podcasts der Städtischen Bibliotheken Dresden.

00:31:40: Ich hoffe, es hat euch gefallen.

00:31:42: Empfehlt uns bitte weiter oder bewertet die Folge bei Apple Podcast oder Spotify

00:31:47: oder wo immer ihr uns auch hört.

00:31:49: Das war's für heute.

00:31:51: Mein Name ist Marcus Anhäuser.

00:31:53: Macht's gut und bis zum nächsten Mal.

00:31:55: [Musik]

00:32:12: Der Bücherrausch-Podcast ist eine Produktion von Marcus Anhäuser, Dresden.

00:32:17: Die Titelmelodie "Please listen carefully" ist von Jazza.

00:32:22: Mit freundlicher Unterstützung der Städtischen Bibliotheken Dresden.

00:32:26: Eine Produktion aus dem Jahr 2024.

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