Leseempfehlung: "Kommt ein Pferd in die Bar" von David Grossman.
Shownotes
Buchtipp von:
Sylvia Meißner, Städtische Bibliotheken Dresden
Buchtitel: "Kommt ein Pferd in die Bar"
Autor: David Grossman
2016 Hanser, München.
Veranstaltungstipp:
Buchpremiere – Michael G. Fritz: Auffliegende Papageien. 26.11.2019, 19:30 Uhr
Veranstaltungsraum 1. OG, Kulturpalast Dresden.
Die Musik dieser Folge:
Titelmusik: "Please, Listen Carefully" von Jahzzar
"Toppler" von Blue Dot Sessions, CC-BY-NC
Produktion:
Aufgenommen von Marcus Anhäuser, Dresden, 2018. Produziert von Marcus Anhäuser, Dresden, 2019.
Mit Unterstützung der Städtischen Bibliotheken Dresden https://www.bibo-dresden.de.
Transkript anzeigen
00:00:00: Es ist ja widerlich, was er mit ihr macht.
00:00:02: Aber gleichzeitig ist er der Verlierer.
00:00:04: Er ist Täter und Opfer.
00:00:06: Er ist gemein und er ist bemitleidenswert.
00:00:09: Und die Schwachen gegenseitig tun sich weh.
00:00:12: Und das ist furchtbar.
00:00:14: Hier ist der Bücherrausch.
00:00:15: Please listen carefully.
00:00:17: (Dynamische Musik)
00:00:18: Herzlich willkommen zur letzten Folge des Bücherausch,
00:00:24: dem Podcast, in dem euch die Buchliebhaberinnen
00:00:27: der städtischen Bibliotheken Dresden ihre Lieblingsbücher vorstellen.
00:00:31: Heute lernt ihr einen Roman kennen,
00:00:34: der den letzten tragischen Auftritt eines Comedians beschreibt,
00:00:38: bei dem dem Publikum das Lachen im Hals stecken bleibt.
00:00:42: Mein Name ist Marcus Anhäuser.
00:00:45: (Dynamische Musik)
00:00:46: In dieser letzten Folge dieser ersten Staffel des Bücherausch-Podcasts
00:00:57: könnt ihr Sylvia Meissner zuhören
00:00:59: wie sie euch den Roman "Kommt ein Pferd in die Bar"
00:01:03: von dem israelischen Autor David Grossmann
00:01:06: aus dem Jahr 2016 vorstellt.
00:01:08: Sylvia arbeitet seit vielen Jahren als Bibliothekarin
00:01:13: und ist Bereichsleiterin in der Abteilung Schöne Literatur
00:01:16: in der Zentralbibliothek in Dresden.
00:01:18: Mit David Grossmanns Büchern hatte sie bis zu diesem Buch
00:01:22: so ihre Probleme.
00:01:24: David Grossmann lebt in Israel.
00:01:27: Er hat mehrere Romane geschrieben.
00:01:30: Ich habe mehrere angelesen, keins zu Ende.
00:01:33: Und das Buch habe ich verschlungen.
00:01:37: Und das ist auch ein Buch, was mich seit 2016 ...
00:01:41: was immer mal wieder in mein Leben kommt
00:01:44: und was ich immer wieder in die Hände nehme.
00:01:47: Ich hab's immer noch nicht zu Hause, ich leihe es mir in der Bibliothek aus.
00:01:50: Aber ich lese es regelmäßig.
00:01:52: Grossmann verändert sich mit den Büchern.
00:01:55: Er hat in jedem Buch eine andere Temperatur.
00:01:58: Und das war meine Temperatur.
00:02:02: (Sylvia lacht.)
00:02:04: Ja.
00:02:06: (Ruhige Musik)
00:02:08: Die Personage ist recht klein gehalten, übersichtlich.
00:02:21: Also es gibt den Stand-up-Comedian in Doffele.
00:02:25: Es gibt ... das große Publikum.
00:02:28: Und es kommen vor, ein geladener Gast,
00:02:32: das ist ein Richter, ein Jugendfreund, ein Richter im Ruhestand.
00:02:36: Und dann wird definitiv natürlich noch ...
00:02:39: eine kleinwüchsige Frau, die relativ weit vorn sitzt,
00:02:43: die sich als ... im Publikum ...
00:02:45: ähm ... die sich dann als Bekannte ...
00:02:48: als Nachbarin des Stand-up-Comedian herausstellt.
00:02:53: Und natürlich funktioniert das ... geht ...
00:02:56: funktioniert die Handlung über Rückblicke.
00:02:58: Also es geht im Prinzip um die Kindheit des ...
00:03:01: Comedian.
00:03:03: Er tritt in seine Heimatstadt auf.
00:03:05: Und lädt sich dazu Gäste ein.
00:03:08: (Ruhige Musik)
00:03:21: Das Buch startet wirklich mit einem Feuerwerk an Entertainment.
00:03:25: Billige Witze unter der Gürtellinie.
00:03:28: Witze, wo man als Leser auch wirklich lächelt, lacht.
00:03:33: Das ist der wunderbare Eingang in das Buch.
00:03:37: Man ist sofort drin.
00:03:39: Äh ...
00:03:40: Und natürlich werden nach und nach die Gäste ...
00:03:43: verlassen den Raum, weil ...
00:03:46: äh ... der Lesen ahnt schon zu Beginn,
00:03:49: so geht das hier nicht weiter.
00:03:51: Ähm ...
00:03:52: sondern es muss natürlich einen Konflikt geben.
00:03:56: Es gibt einen Konflikt, es gibt viele Konflikte.
00:03:58: Man weiß sofort, es muss eine der letzten Vorstellungen sein.
00:04:02: Das ist der Geburtstag des Comedians.
00:04:04: Man ahnt sofort, er ist müde, er ist alt,
00:04:06: Mitte Ende 50 sind die Protagonisten.
00:04:09: Er liebt seinen Beruf nicht mehr, er ist leer, er ist ausgebrannt.
00:04:14: (Ruhige Musik)
00:04:17: (Sanfte Musik)
00:04:19: Und in seiner Heimat stand, äh ...
00:04:24: vermutlich wird er Kummer aus seiner Kindheit verarbeiten wollen.
00:04:29: Er möchte sogenannte Freunde, die ihn enttäuscht haben,
00:04:33: einen Freund,
00:04:35: vor dem möchte er auf der einen Seite noch mal sein Erfolg zeigen,
00:04:40: er ist ein berühmter Comedian.
00:04:42: Auf der anderen Seite ist das, denke ich, der geplante Zusammenbruch.
00:04:46: Er hat einen persönlichen Zusammenbruch.
00:04:48: Man weiß genau, der hat alle Kräfte in sich noch mal motiviert,
00:04:51: mobilisiert.
00:04:52: Und dann ... bricht er zusammen.
00:04:55: (Ruhige Musik)
00:04:57: Er macht Witze auf Kosten aller Randgruppen.
00:05:12: Stand-up-Comedian.
00:05:14: Zum Teil billig, zum Teil wunderbarer Humor.
00:05:17: Also, er ist Jude.
00:05:18: Auf Kosten ...
00:05:21: der Juden, auf Kosten Behinderter, auf Kosten der Armen,
00:05:25: der Trinker, der Frauen.
00:05:27: Es ist furchtbar sexistisch.
00:05:29: Äh ...
00:05:31: Also, diese Witze kehren immer wieder.
00:05:33: Es gibt immer einen Wechsel dieser ...
00:05:36: dieser traurigen Kindheitsaufarbeitung
00:05:41: und dieser billigen Witze.
00:05:44: Wir erleben wirklich einen Desaster.
00:05:46: Ein persönliches Desaster.
00:05:48: Der Richter, der geladene Gast ...
00:05:51: Sie waren Kinderfreunde.
00:05:53: Und er sitzt im Publikum und ...
00:05:56: Sie haben vorher telefoniert, er hat den Richter angerufen
00:05:59: und gesagt, ich gebe in meiner Heimatstadt eine Vorstellung.
00:06:02: "Ich habe Geburtstag, ich möchte dich einladen."
00:06:04: Der Richter ... erinnert sich nicht mehr an seinen Freund.
00:06:08: Dazu muss man auch sagen, sie kommen auch aus völlig
00:06:12: unterschiedlichen Familien.
00:06:13: Natürlich, die Herkunft ist völlig unterschiedlich.
00:06:16: Der Richter kommt aus reichem Elternhaus.
00:06:18: Ähm ...
00:06:19: Doffeles Familie ist arm, sein Vater ist ein kleiner Händler.
00:06:24: Und ...
00:06:26: Sie kennen ...
00:06:28: Sie wären sich nie im Leben begegnet.
00:06:30: Sie lernen sich durch die Schule kennen.
00:06:32: Sie haben einen ähnlichen Nachhauseweg.
00:06:35: Und ...
00:06:37: der Richter, Diplomatenkind oder Kind reicher Eltern
00:06:41: begreift sehr gut, dass er ...
00:06:43: dass er ...
00:06:44: einen wunderbaren Hintergrund hat,
00:06:47: um das andere Kind durch Erzählungen zu begeistern.
00:06:49: Er erzählt ihm von den verschiedenen Reisen,
00:06:52: der Vater ist wohl Handelsreisender.
00:06:54: Und er verzaubert damit den Jungen.
00:06:56: Der Junge ist ein fröhlicher Junge, ein guter Junge.
00:07:00: Er ...
00:07:01: versucht schon aufgrund der vielen Schläge,
00:07:04: die er zu Hause kassiert, seines strengen Elternhauses,
00:07:07: des armen Elternhauses,
00:07:08: andere Leute zum Lachen zu bringen.
00:07:12: Und deshalb am Ende wird er ja auch Comedian, ne?
00:07:16: (Ruhige Musik)
00:07:18: Doffele läuft auf Händen auf der Straße,
00:07:27: daran erinnert sich auch der Richter.
00:07:29: Er läuft oft auf den Händen um die Leute.
00:07:32: Er läuft auf den Händen, weil er geschlagen wird.
00:07:36: Damit einer nicht geschlagen wird.
00:07:38: Er wird von den Schülern geschlagen, er ist ein Außenseiter.
00:07:41: Damit einer nicht ins Gesicht geschlagen wird,
00:07:44: entschließt er sich, auf den Händen zu laufen.
00:07:46: Und erreicht darin eine Perfektion, das führt auch an ihm Abend vor.
00:07:50: Das ist ...
00:07:51: ich sag mal, so eine Denke zu haben.
00:07:55: Das ist ... katastrophal.
00:07:57: (Ruhige Musik)
00:07:58: (Ruhige Musik)
00:08:01: (Ruhige Musik)
00:08:02: Es gibt ein ...
00:08:18: ganz entscheidender Handlungsteil in dem Buch.
00:08:23: Es gibt einen Ferienlageraufenthalt.
00:08:26: Und aus diesem Ferienlageraufenthalt wird das Kind geholt.
00:08:30: Und zu einer Beerdigung geschafft.
00:08:32: Alles so was von ... kühl, emotionslos.
00:08:37: Der Fahrer ...
00:08:40: Die Menschen, die auch in dem Moment mit dem Kind umgehen,
00:08:43: dass er so reich ist, dass er so reif ist,
00:08:46: dass er so ein großes Gefühlsleben hat,
00:08:48: dass Mutter schützt, Freunde schützt und selbst eigentlich
00:08:51: sich immer wieder motiviert, auf den Händen läuft.
00:08:55: Der Fahrer, der ihn zu einer Beerdigung schaffen soll,
00:08:59: aus dem Lager heraus, reißt Witze.
00:09:03: Die ganze Zeit, um das Kind aufzuheitern.
00:09:06: Und während der ganzen Fahrt überlegt der Junge,
00:09:09: was wär mir lieber, Vater tot oder Mutter tot?
00:09:12: Also, auch da ist das Kind erwachsen.
00:09:15: Es sind beide tot.
00:09:18: (Ruhige Musik)
00:09:22: (Sanfte Musik)
00:09:23: Wir sind relativ am Anfang der Handlung.
00:09:35: Er, der den Richter eingeladen hat und von ihm beurteilt werden möchte
00:09:39: und Witze reißt, wird schlagartig selbst aus dem Konzept gerissen.
00:09:44: Als eine Kleinwüchsige, die sich im Publikum ganz vorm Sitz
00:09:49: zu erkennen gibt.
00:09:51: (Sanfte Musik)
00:09:52: "Ich glaub, ich seh nicht richtig", blökt er plötzlich.
00:09:55: "Du, ja, du Kleine, damit den bemalten Lippen,
00:09:57: hast du dich im Dunkeln geschminkt?
00:09:59: Oder hat deine Kosmetikerin Parkinson?
00:10:02: Sag mal, Püppchen, findest du das in Ordnung,
00:10:04: eine SMS zu schreiben, während ich mir hier den Arsch aufreiße,
00:10:08: damit du was zum Lachen hast?"
00:10:10: Er redet zu der kleinen Frau, die allein am Tisch sitzt,
00:10:13: nicht weit von mir.
00:10:14: Sie trägt einen merkwürdigen, komplizierten Haarturm auf dem Kopf.
00:10:18: Eine Art geflochtenen Kegel, in dem eine rote Rose steckt.
00:10:21: "Gehört sich das?
00:10:22: Hier schwitzt ein Mensch, schüttet dir seine Seele aus,
00:10:25: kehrt sein Innerstes nach außen, entblößt sich,
00:10:28: was heißt entblößt sich, macht sich nackt bis auf die Prostata
00:10:32: und du simst durch die Gegend.
00:10:34: Sagst du mir vielleicht mal, was an deiner SMS so dringend war?"
00:10:37: Sie antwortet völlig ernst, beinahe vorwurfsvoll.
00:10:41: "Das ist keine SMS."
00:10:42: "Nicht schön, dass du lügst, Schätzchen.
00:10:44: Ich hab's doch gesehen.
00:10:45: Tack, tack, tack, feine, flinke Finger."
00:10:53: "Übrigens, stehst du oder sitzt du?"
00:10:56: "Was?"
00:10:57: Sofort zieht sie den Kopf tief zwischen die Schultern.
00:11:00: "Nein, ich hab nur was für mich notiert."
00:11:03: "Für dich?"
00:11:04: Er reißt die Augen auf und blickt intensiv ins Publikum,
00:11:08: verbündet sich mit ihm gegen sie.
00:11:10: "Ich hab so eine, murmelt sie, so eine App zum Memo schreiben."
00:11:14: "Das interessiert uns aber jetzt wirklich, Schätzchen.
00:11:17: Vielleicht sollen wir alle auch noch für einen Moment rausgehen,
00:11:21: damit wir ja nicht den zarten Kontakt stören,
00:11:23: der sich hier gerade anbahnt zwischen dir und dir."
00:11:26: "Was?"
00:11:27: Sie reißt den Kopf herum.
00:11:29: "Nein, nein, nicht rausgehen."
00:11:31: Sie spricht mit einer merkwürdigen Verzögerung.
00:11:34: Ihre Stimme ist zart und kindlich,
00:11:36: doch die Wörter kommen ungelenk aus ihrem Mund.
00:11:39: "Dann verrat uns doch mal, was hast du dir denn da aufgeschrieben?"
00:11:43: Er prustet vor Lachen und antwortet sofort.
00:11:46: "Mein Liebstes selbst, ich fürchte,
00:11:49: wir müssen uns nun trennen, denn heute Abend, Spatz,
00:11:52: hab ich den Mann meiner Träume getroffen."
00:11:55: Die Frau starrt ihn an.
00:11:57: Ihr Mund steht leicht offen.
00:11:59: Sie trägt schwarze orthopädische Schuhe mit dicken Sohlen.
00:12:03: Ihre Beine reichen nicht bis zum Boden.
00:12:06: Ich erkenne eine große, rotglitzernde Tasche,
00:12:09: die zwischen ihrem Körper und dem Tisch klemmt,
00:12:12: und frage mich, ob er das von der Bühne aus auch sehen kann.
00:12:17: "Nein," sagt sie nach langem Nachdenken.
00:12:19: "das stimmt überhaupt nicht, das hab ich nicht geschrieben."
00:12:22: "Und was hast du dann geschrieben?"
00:12:24: "Das ist privat", flüstert sie.
00:12:28: "Privat!"
00:12:29: Er nutzt das Wort als Lasso,
00:12:31: dreht den Hals nach hinten, als würde er nach hinten gerissen.
00:12:35: Er macht ein paar Stolper-Schritte auf der Bühne,
00:12:38: zeigt uns sein schockiertes Gesicht,
00:12:40: als habe jemand ein besonders unflätiges Wort in den Raum geworfen.
00:12:44: "Welchen BerufwWenn ich fragen darf, übt denn unsere so private und intime Dame aus?"
00:12:48: Ein eisiger Lufthauch weht durchs Publikum.
00:12:52: Maniküre.
00:12:54: "Aha!"
00:12:56: Er nickt, mimt den Verständnisvollen.
00:12:59: Er taucht erkennbar hinab in seine Tiefen,
00:13:02: um Spottperlen empor zu holen, die zu dieser Gelegenheit passen.
00:13:06: "Vielleicht erzählst du uns mal, liebes Medium,
00:13:09: halt, aus welcher Stadt kommst du eigentlich, Däumelinchen?"
00:13:14: "So darfst du mich nicht nennen."
00:13:17: "Entschuldigung."
00:13:19: Er weicht zurück, merkt, dass er zu weit gegangen ist.
00:13:22: "Doch kein absolutes Schwein", schreibe ich auf die Serviette.
00:13:26: "Jetzt von hier, aus der Nähe von Netanya", antwortet sie.
00:13:30: Doch der Schmerz über die Kränkung verzerrt ihr Gesicht.
00:13:33: "Wir haben hier ein Dorf, Leute wie ich.
00:13:36: Aber als ich klein war, da war ich deine Nachbarin."
00:13:40: "Du hast neben dem Buckingham Palace gewohnt?"
00:13:44: Das wühlt ihn auf.
00:13:47: Er trommelt in die Luft, erntet noch eine schwache Welle Gelächter.
00:13:51: Ich sehe, er zögert den Bruchteil einer Sekunde,
00:13:54: bevor er beschließt, sie nicht aufzuziehen für ihr,
00:13:57: Als ich klein war.
00:13:59: Erst jetzt begreife ich, was sie zu ihm gesagt hat.
00:14:03: "Nein", konstatiert sie mit demselben strengen Ernst.
00:14:07: "Der Buckingham Palace ist in England, das weiß ich, weil ..."
00:14:11: "Wie bitte? Was hast du gesagt?"
00:14:16: "Ich löse Kreuzworträtsel, ich kenne alle Länder."
00:14:19: "Nein, was hast du davor gesagt?"
00:14:22: "Dorf!"
00:14:24: Der Betreiber des Saals richtet einen Spot auf sie.
00:14:28: Sie erstarrt unter den Blicken.
00:14:30: Die jungen Motorradfahrer flüstern erregt.
00:14:33: Sie ruft etwas in ihnen wach.
00:14:36: "Wie diese Typen, Blumen des Bösen."
00:14:40: "Du warst meine Nachbarin?" fragt er zögernd.
00:14:44: "Ja, das habe ich gleich gesehen, als du auf die Bühne kamst."
00:14:48: Sie senkt den Kopf und flüstert.
00:14:50: "Du hast dich kein bisschen verändert."
00:14:53: "Mich nicht verändert?", fragt er spöttig.
00:14:56: "Ich habe mich kein bisschen verändert?"
00:14:59: "Und du bist sicher, dass ich das bin?"
00:15:02: "Klar", sagt sie, kichernd und strahlt.
00:15:06: "Du bist ... schweigend im Saal."
00:15:09: "Mein Mund wird trocken."
00:15:11: "Nur einmal hatte ich ihn auf den Händen gehen sehen."
00:15:15: "Das war an dem Tag, an dem ich ihn zum letzten Mal sah."
00:15:19: "Immer auf den Händen", lacht sie und schlägt die Hand vor den Mund.
00:15:23: "Heutzutage kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten",
00:15:27: murmelt er.
00:15:29: Ein spontaner Seufzer entfährt ihm.
00:15:33: "Einmal, fährt sie fort, im Friseursalon deines Vaters habe ich dich auf den Beinen erlebt."
00:15:37: "Da habe ich dich erst gar nicht erkannt."
00:15:40: Die Gäste im Saal beginnen zu atmen.
00:15:43: Sie sind nicht ganz sicher, wie sie reagieren sollen.
00:15:46: "Wie hast du gesagt?", heißt sie.
00:15:49: "Das ist doch egal."
00:15:51: Sie zieht den Kopf etwas ein und ein kleiner Buckel
00:15:54: unterhalb ihres Nackens wird sichtbar.
00:15:57: "Das ist überhaupt nicht egal", sagt er.
00:16:01: "Ich war noch klein, achteinhalb, und Du hattest vielleicht schon Bar Mitzva, Du warst die ganze Zeit auf den Händen, du hast mich sogar angesprochen von da unten."
00:16:05: "Bloß um dir unter den Rock zu gucken", sagt er und zwinkert de, Publikum zu.
00:16:09: Doch sie schüttelt so energisch den Kopf, dass er hart rumwackelt.
00:16:13: "Das stimmt nicht, Du hast dreimal mit mir geredet und ich hatte ein langes Kleid an,
00:16:17: das blau karierte.
00:16:19: Ich habe auch mit dir geredet, obwohl es verboten war."
00:16:23: "Und was haben Sie verboten?"
00:16:25: Mit ausgefallenen Krallen stürzt er sie sich auf das Wort. Und warum warum war das Wort verboten? Ist doch egal.
00:16:30: "Sag mir, was man über mich gesagt hat."
00:16:33: "Dass du ein verrückter Junge bist."
00:16:36: * Musik *
00:16:39: Er kommt da hin und denkt, er steuert das Ganze.
00:16:50: Er will dem Richter vorführen, dass er berühmt ist,
00:16:53: dass er beleidigt ist.
00:16:55: Dass er eine Rechnung zu begleichen hat.
00:16:58: er ihm zu sagen, dass er an dem Tag,
00:17:02: an dem er zur Beerdigung seiner Eltern gefahren hat, gegangen ist,
00:17:07: niemand ihn getröstet hat.
00:17:10: Auch da ist er ja mit auf Händen zum Auto gelaufen.
00:17:14: Auch da hat er wieder versucht,
00:17:16: sein Leben einfach freundlich zu machen, als es ist.
00:17:20: So ist er durchs Leben gegangen, ist Clown geworden und hat,
00:17:24: weil er selbst ein unglücklicher Mensch ist,
00:17:27: andere permanent bleidigt.
00:17:29: In dieser Haltung, um bestimmt eine Art Abrechnung zu geben,
00:17:34: für sich aufzuhören, für sich etwas klarzustellen nach hinten,
00:17:38: bestellt er den Richter und trifft die kleine Frau, die ihn kannte.
00:17:42: Sie bringt diese ganze Vorstellung durcheinander.
00:17:46: Das ist, denke ich, das spricht für ihn.
00:17:49: Das spricht auch wie immer gegen ihn,
00:17:52: weil er ja auch auf ihren Gefühlen rumtritt.
00:17:55: Sie ist so kleinste ist körperbehindert, es ist ja wiederlich,w as er mit ihr macht.
00:17:58: Und ... gleichzeitig ist er der Verlierer
00:18:01: Er ist Täter und Opfer
00:18:05: Er ist gemein und er ist bemitleidenswert.
00:18:09: Und die Schwachen gegenseitig tun sich weh.
00:18:13: Und das ist furchtbar, das empfinde ich als furchtbar.
00:18:17: Und deshalb ist die Stelle für mich stark, auch wenn es
00:18:21: Wenn der persönliche Kummer, sein persönlicher Kummer, nun
00:18:25: noch weiter hinten verhandelt wird. Aber da ist er gemein.
00:18:28: (Ruhige Musik)
00:18:30: Es ist ein Buch, was großartig unterhält,
00:18:45: weil es ist eine spritzige Sprache, es ist gleichzeitig traurig.
00:18:50: Ich glaube ...
00:18:54: Es gibt auch ...
00:18:56: Es ist ein Buch, was uns auch vorführt,
00:19:01: dass man die Fähigkeit durchaus haben, über sich selbst zu lachen.
00:19:05: Also traurige Leute, für traurige Leute ist es sehr gut.
00:19:08: Weil sie dort sehen, dass man über sich selbst Witze machen kann
00:19:13: und dadurch auch reicher wird.
00:19:15: Jemand, der gnadenlos Karrierist ist, das ist die Figur des Richters,
00:19:20: dem kann man das auch zu lesen geben.
00:19:24: Aber man kann es überhaupt einzulesen geben, weil es unterhält.
00:19:29: Es unterhält auf wunderbare Art und Weise über eine Etappe im Leben
00:19:33: einen Riesenbruch, den man eigentlich nie verarbeitet hat.
00:19:36: Wir haben alle irgendwelche Schläge aus unserer Kindheit.
00:19:39: Wahrscheinlich schleppen wir alle irgendwelche winzigen Dinge mit uns rum.
00:19:43: Und entscheidend ist, dass man sich seinem Leben stellt.
00:19:47: Und er stellt sich ja seinem Leben, sehr spät.
00:19:50: Auch der Richter stellt sich seinem Leben, der wird gezwungen.
00:19:53: Wir alle stellen uns uns selbst.
00:19:57: Und deshalb kann man das allen empfehlen.
00:20:00: * Musik *
00:20:03: Das war Silvia Meissner.
00:20:14: Sie stellte euch "Kommt ein Pferd in die Bar" von David Grossmann
00:20:18: aus dem Jahr 2016 vor.
00:20:20: Einen Roman, den ihr sicherlich auch in eurer Bibliothek finden werdet.
00:20:24: Egal, wo ihr diesen Podcast hört.
00:20:27: Und an dieser Stelle noch ein Tipp für alle aus der Region um Dresden.
00:20:31: Am 26. November gibt es in der Zentralbibliothek
00:20:36: im Kulturpalast Dresden eine Buchpremiere.
00:20:39: Michael G. Fritz liest ab 19.30 aus seinem neuen Roman
00:20:43: "Auffliegende Papageien".
00:20:46: Alle Infos dazu findet ihr in den Show Notes
00:20:49: und auf der Webseite der Städtischen Bibliotheken Dresden.
00:20:53: * Musik *
00:20:56: Das war der Bücherrausch.
00:21:02: Der Podcast mit Buchempfehlungen abseits der aktuellen Bestsellerlisten.
00:21:07: Wir hoffen, es hat euch gefallen.
00:21:09: Wir freuen uns auf eure Bewertungen bei iTunes.
00:21:13: Ihr findet uns auch bei Spotify
00:21:15: und auf der Webseite der Städtischen Bibliotheken Dresden.
00:21:19: Mein Name ist Marcus Anhäuser.
00:21:21: Vielleicht bis zum nächsten Mal.
00:21:23: * Musik *
00:21:42: Der Bücherrausch ist eine Produktion von Marcus Anhäuser
00:21:45: mit Unterstützung der Städtischen Bibliotheken Dresden.
00:21:48: Die Titelmelodie ist von "Jazzar",
00:21:51: die Musik dieser Folge von der Blue Dot Session.
00:21:54: Alle Infos und Links zur Musik
00:21:56: finden sich in den Informationen zu dieser Folge.
00:21:59: Eine Produktion aus dem Jahr 2019.
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