Leseempfehlung: "Unser allerbestes Jahr" von David Gilmour
Shownotes
Buchtipp von:
Marit Kunis-Michel, Städtische Bibliotheken Dresden
Buchtitel: "Unser allerbestes Jahr"
Autor: David Gilmour
2009, Fischer, Frankfurt am Main
Veranstaltungstipp:
Lesung von Martin Mosebach: "Die 21 | Reise ins Land der koptischen Martyrer"
Zentralbibliothek, Veranstaltungsraum 1. OG,
Eintritt 9 EUR, ermäßigt 6 EUR mit Bibliotheksausweis, Tickets online oder am Ticketschalter der Herkuleskeule im EG
Die Musik dieser Folge:
Titelmusik:
"Please, Listen Carefully", Jahzzar
"Seamless", Blue Dot Session
Aufgenommen von Marcus Anhäuser, Dresden, im Jahr 2018. Produziert von Marcus Anhäuser, Dresden. 2019.
Mit Unterstützung der Städtischen Bibliotheken Dresden https://www.bibo-dresden.de
Transkript anzeigen
00:00:00: Ja, das ist eigentlich so was wie eine Kinokarte, die man sich aufhebt, weil es ein besonderer
00:00:06: Film war oder weil es ein besonderer Abend war, weil man mit jemandem, mit einem ganz
00:00:10: besonderen Menschen diesen Abend verbracht hat.
00:00:13: Das ist das Buch in ganz vielen Facetten.
00:00:16: Hier ist der Bücherrausch.
00:00:17: Please listen carefully.
00:00:18: Herzlich willkommen zur ersten Folge dieses neuen Podcasts, in dem euch die Buchliebhaberinnen
00:00:27: der städtischen Bibliotheken Dresden ihre Lieblingsbücher vorstellen.
00:00:32: In dieser allerersten Folge lernt ihr einen Roman kennen, der euch auf ungewöhnliche
00:00:36: Weise durch die Geschichte des Kinofilms führt.
00:00:40: Mein Name ist Marcus Anhäuser.
00:00:42: Ihr kennt das vielleicht.
00:00:51: Pubertierende Teenager scheinen in einer anderen Welt zu leben, in der Widerspruch und Wahnsinn
00:00:57: zum Normalzustand zählen.
00:00:59: Jeder hat seine eigenen Methoden damit umzugehen.
00:01:02: Ratgeberbücher für entnervte Eltern gibt es wie Sand am Meer.
00:01:05: Einen ganz besonderen Weg, auf den Protest und die Zickigkeit seines Sohnes zu reagieren,
00:01:12: wählte der Autor des Buches, das wir heute vorstellen.
00:01:15: Ihr hört eine Empfehlung von
00:01:18: Marit Kunis-Michel.
00:01:19: Ich bin die Leiterin der Zentralbibliothek der städtischen Bibliotheken Dresden.
00:01:23: Marit hat Kommunikationswissenschaften studiert, dann lange in der Film- und Fernsehforschung
00:01:28: gearbeitet und ist vor acht Jahren ins Bibliothekswesen eingestiegen.
00:01:33: Es mag auch mit ihrem besonderen Blick auf Film und Fernsehen zu tun haben, dass sie
00:01:38: uns heute folgendes Lieblingsbuch vorstellt.
00:01:41: Ich möchte gerne eines meiner Lieblingsbücher vorstellen.
00:01:45: David Gilmore, Unser allerbestes Jahr, erschien bei S.
00:01:50: Fischer, ein Roman, der im Original "The Film Club" heißt.
00:01:56: Im Original erschienen 2007, bei uns in deutscher Übersetzung 2009 erschienen.
00:02:01: Das ist ein Buch, das in 24 Sprachen übersetzt wurde, lange Zeit auf Bestsellerlisten stand.
00:02:08: Und dessen Autor, zwar David Gilmore, heißt, der aber nicht identisch ist mit dem David
00:02:13: Gilmore, den viele von euch von Pink Floyd kennen.
00:02:17: David Gilmore ist ein Dokumentarfilmer, Autor und Filmkritiker.
00:02:35: Und das merkt man ganz gut in diesem Buch.
00:02:42: Er fasst eigentlich all seiner tollen Berufe hier in diesem Buch zusammen.
00:02:47: Das ist eine Autobiografie.
00:02:49: Er berichtet nicht nur über ein allerbestes Jahr, sondern über drei Jahre, die er mit
00:02:54: seinem Sohn verbringt, indem er Filme schaut.
00:02:58: Der große Plot geht um Vater, Sohn, David und Jessie über drei Jahre, wie sie an ihrer
00:03:10: Beziehung arbeiten, wie sich das verändert und wie ein Vater seinen Sohn begleitet und
00:03:16: andersrum der Sohn seinen Vater begleitet.
00:03:19: Der Sohn ist 16, geht zur Schule, mehr schlecht als recht, miese Laune, schlecht gelaunt, absolut
00:03:39: unmotiviert.
00:03:40: Es ist der tägliche Kampf mit einem Pubertier zu Hause zwischen Vater und Sohn.
00:03:47: "Hast du Hausaufgaben?"
00:03:49: "Nein, habe ich nicht."
00:03:50: Man findet dann doch irgendwelche Zettel, man meldet ihn an einer anderen Schule an,
00:03:55: versucht es mit einem Schulwechsel sozusagen.
00:03:57: Er schwänzt auch da, hat schlechte Noten.
00:04:02: Und David Gilmour, Vater, entscheidet an einem Abend als wieder dieser Frage nach Hausaufgaben,
00:04:10: Latein, der Klassiker des Übersetzens, entscheidet, seinem Sohn die Frage zu stellen, "Wirst du
00:04:19: weiter zur Schule gehen?"
00:04:20: "Überleg dir das?"
00:04:22: "Genau, ich möchte die Antwort jetzt nicht, denk in Ruhe darüber nach."
00:04:25: Und allein diese Frage in den Raum zu stellen, mit allen Konsequenzen, die auch das Nein
00:04:34: als Antwort bringen kann, ist schon mal super spannend für jemanden, der Elternteil ist,
00:04:41: ob Vater oder Mutter.
00:04:42: Und dann würde ich gern eigentlich schon genau die Stelle vorlesen, wie es zur Antwort kommt,
00:04:50: weil das entscheidend für den Anfang des Buches ist.
00:04:53: David hat Jesse die Frage am Abend gestellt und er lädt ihn ein paar Tage später in ein
00:05:15: französisches Restaurant ein.
00:05:17: Und sie kommen ins Gespräch.
00:05:19: "Also, begann ich, du hast über unser Gespräch von neulich nachgedacht?
00:05:24: Ich merkte, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, aber hier ging das nicht."
00:05:29: Er blickte um sich, offensichtlich irritiert wegen dieser Einschränkung.
00:05:33: Dann brachte er sein bleiches Gesicht ganz dicht vor meines, als wollte er mir ein Geheimnis
00:05:40: anvertrauen.
00:05:41: "Um ganz ehrlich zu sein," flüsterte er, "ich möchte nie wieder eine Schule von innen
00:05:49: sehen."
00:05:50: Mein Magen flatterte.
00:05:53: "Gut, einverstanden."
00:05:58: Er schaute mich an, sprachlos.
00:06:00: Er wartete auf das "Ja, aber..."
00:06:03: Ich sagte, "unter einer Bedingung.
00:06:08: Du brauchst nicht zu arbeiten, du brauchst keine Miete zu bezahlen.
00:06:13: Von mir aus kannst du jeden Tag bis nachmittags um fünf schlafen.
00:06:18: Aber keine Drogen.
00:06:20: Drogen und die Sache wird abgeblasen."
00:06:22: "Okay." "Ich meine es ernst.
00:06:27: Ich lasse das ganze Haus über dir einstürzen, wenn du damit anfängst."
00:06:30: "Okay."
00:06:32: "Aber da ist noch was," sagte ich und kam mir vor wie Inspector Columbo.
00:06:40: "Was?"
00:06:41: "Ich will, dass du jede Woche mit mir drei Filme anschaust."
00:06:46: Ich suche sie aus.
00:06:47: Das ist die einzige Form von Ausbildung, die du bekommst."
00:06:51: "Du machst Witze," sagte er nach einer kurzen Pause.
00:06:55: Das ist kein Witz.
00:07:04: Das ist genau der Deal, den David vorschlägt für Jesse.
00:07:08: Und Jesse geht dieses Geschäft ein.
00:07:10: Und wir begleiten beide Hauptakteure nicht nur ein Jahr, sondern drei Jahre lang beim
00:07:18: Filme schauen und Filme analysieren.
00:07:21: Und darüber hinaus, wie diese Filme und die Filmkritik die beiden verändert.
00:07:28: Das ist das Tolle daran.
00:07:29: Wir könnten das kleine Stück lesen.
00:07:38: "Ich fackelte nicht lange.
00:07:40: Am nächsten Nachmittag setzte ich mich mit ihm auf das Sofa im Wohnzimmer.
00:07:44: Ich rechts, er links.
00:07:45: Ich zog die Vorhänge zu und zeigte ihm François Truffaut, Sie küssten und sie schlugen ihn.
00:07:51: Meiner Meinung nach war das ein guter Einstieg in den europäischen Autorenfilm."
00:07:56: Und er geht weiter über die Western.
00:07:58: Er geht die komplette Filmgeschichte durch, von Beginn des Kinos bis in die 2000er bis
00:08:09: zu den aktuellen Filmen.
00:08:12: Er baut das sukzessive auf.
00:08:14: Aber es gibt auch Momente, wo er eine halbe Stunde, bevor die Filmsitzung mit seinem Sohn
00:08:19: erst ans Regal geht und eine DVD rauszieht und sagt, heute nehmen wir das.
00:08:25: Und dann genießen die beiden, kritisieren, haben ganz andere Ansichten zu Filmen, denken
00:08:35: neu drüber nach, sind manchmal schweigsam.
00:08:39: Und was Gilmor hier wunderbar macht, ist einfach Filme sprachlich umsetzen, in ein Buch zu
00:08:47: bringen.
00:08:48: Und wenn man den Film schon mal gesehen hat, entstehen sofort Bilder im Kopf.
00:08:53: Man hat sofort die Szene wieder im Kopf.
00:08:56: Man hat Filmmusik im Ohr.
00:08:58: Man erinnert sich auch an den Moment, wo man im Kino war, vielleicht auch mit wem man im
00:09:04: Kino war.
00:09:05: Das ist das eine und das andere.
00:09:08: Am Ende der Lektüre dieses Buches hatte ich eine Liste an Filmen, die ich unbedingt noch
00:09:14: sehen wollte und musste.
00:09:15: Und bin dann also in die Videothek meines Vertrauens gegangen und habe mir einige Filmklassiker
00:09:21: ausgeliehen, die ich einfach verpasst habe und dachte, was für ein Glück, dass Gilmor
00:09:27: mich da hingeführt hat.
00:09:28: Und habe dann noch mal mit dem Buch abgeglichen, wie die beiden das gelesen haben, den Film.
00:09:34: Und ich sagte, nee, ich sehe den ganz anders oder ja, da hat er recht und ein Glück, dass
00:09:39: ich da noch mal drauf hingewiesen wurde.
00:09:41: Das ist das Schöne.
00:09:43: Ich lese unglaublich gerne Bücher, die ich auch weglegen kann, weil ich über drei, vier
00:10:01: Sätze nachdenken muss.
00:10:03: Und hier denke ich über Szenen nach.
00:10:05: Hier entstehen Bilder im Kopf und die lasse ich dann gerne eine Weile wirken und lese
00:10:11: dann wieder weiter.
00:10:12: Das ist, das schafft dieses Buch, das bringt Filmmusik ins Ohr und schafft Filmbilder ins
00:10:18: Auge.
00:10:19: Und selbst wenn du die Filme noch nicht gesehen hast, entstehen Bilder im Kopf und die dann
00:10:24: abzugleichen mit den Filmen auf der Leinwand, ist genauso spannend.
00:10:28: Das wäre meine zweite Stelle, die ich gerne lesen würde zum Thema Bilder, die im Kopf
00:10:46: entstehen, wenn man das Buch liest, aber auch unterschiedliche Lesart von Film nach Generation.
00:10:54: Audrey Hepburn auf der Feuertreppe ihres Apartments in Manhattan in Frühstück bei Tiffany.
00:11:02: Film 1961 gedreht.
00:11:06: Die Haare nach dem Duschen in ein Handtuch gewickelt und sie klimpert leise auf ihrer
00:11:12: Gitarre.
00:11:13: Die Kamera zeigt uns alles.
00:11:16: Die Treppe, die Backsteinwand, die zarte Frau.
00:11:19: Dann geht sie in eine halbnahe Aufnahme, nur Audrey und schließlich Peng, die Großaufnahme.
00:11:27: Ihr Gesicht füllt die gesamte Leinwand, diese Wangenknochen aus Porzellan, das spitze Kinn,
00:11:34: die braunen Augen.
00:11:35: Sie hört auf zu spielen und schaut hoch, überrascht.
00:11:40: Ihr Blick richtet sich auf jemanden, der im Off ist, nicht im Bild.
00:11:45: "Hi", sagt sie leise.
00:11:47: Das ist einer jener Augenblicke, deren Wegen die Menschen ins Kino gehen.
00:11:52: Man sieht diese Szene, egal in welchem Alter, und man vergisst sie nie wieder.
00:11:58: Sie ist ein Beispiel dafür, was ein Film bewirken kann.
00:12:03: Er kann alle Abwehrmechanismen beiseite räumen und einem das Herz brechen.
00:12:07: "Was ist?", frag ich.
00:12:11: "Komischer Film", sagt er, und unterdrückt dabei ein Gähnen, was er manchmal machte,
00:12:17: wenn er sich nicht richtig wohl fühlte.
00:12:19: "Inwiefern?"
00:12:21: "Im Grunde geht es darum zwei Prostituierte."
00:12:25: "Aber das weiß der Film anscheinend gar nicht.
00:12:28: Der Film tut so, als wäre alles nur niedlich und ein bisschen verrückt."
00:12:32: Hier musste er lachen.
00:12:33: "Ich will nichts Negatives sagen über etwas, was du offensichtlich sehr gern hast."
00:12:37: "Nein, nein", protestierte ich.
00:12:39: "Ich hab nicht den Film gern.
00:12:41: Ich hab Sie gern."
00:12:43: Ich fügte noch hinzu, dass Truman Capote, der Autor des Kurzromans, auf den dieser Film
00:12:49: basierte, mit der Besetzung durch Audrey Hepburn nicht einverstanden war.
00:12:53: Er fand, Holly Golightly muss wilder sein, eher so wie die junge Judy Foster.
00:12:59: "Also das ist so ein klassisches Beispiel.
00:13:08: Der Vater ist fasziniert von Audrey Hepburn und verliert sich in der Szene, in der Kameraarbeit
00:13:15: und der Sohn liest es so, wie es ist und denkt so 'Oh, okay, sind eigentlich zwei, sind eigentlich
00:13:24: Prostituierte und geben sich für Geld hin und hat eine ganz andere Lesart des Filmes
00:13:32: als der Vater.'
00:13:33: Und so gehen sie durch verschiedene Filme durch.
00:13:38: Und was ich sehr schätze an Gilmour, der ja als Dokumentarfilmer und Filmkritiker könnte
00:13:46: sich ja verlieren in der Kritik an sich und könnte uns spätestens ab der 20.
00:13:51: Seite nerven mit seinem Wissen oder mit seinem pädagogischen Zeigefinger.
00:13:57: Aber genau das passiert ja nicht im Buch.
00:14:00: Das ist ein gutes Aushandeln zwischen all dem, was er weiß, wie er es vermittelt an seinen
00:14:06: Sohn und dieser Offenheit, die er hat, seinem Sohn gegenüber auch selbst zu lernen.
00:14:12: Von ihm, von seinem Sohn, von einem pubertierenden Jugendlicher, der die Schule geschmissen hat
00:14:20: und mit dem er Zeit verbringt.
00:14:22: Man hätte auch Filmlexikon drauf schreiben können, dann wäre es dem aber wieder nie
00:14:38: gerecht geworden, weil es so viel weglässt.
00:14:41: Aber für mich ist das das versteckte Filmlexikon in meinem Bücherschrank.
00:14:46: Das ist eigentlich so was wie eine Kinokarte, die man sich aufhebt, weil es ein besonderer
00:14:55: Film war oder weil es ein besonderer Abend war, weil man mit einem ganz besonderen Menschen
00:15:01: diesen Abend verbracht hat.
00:15:03: Das ist das Buch in ganz vielen Facetten.
00:15:05: Und es ist eins, was man immer wieder lesen kann, was man ab und an auf einer Seite X
00:15:14: aufschlagen kann und dann steigt man ein in einen neuen Film und es inspiriert immer wieder
00:15:21: neu.
00:15:22: Das war Marit Kunis-Michel, die uns ihr Lieblingsbuch "Unser Bestes Jahr" von dem kanadischen Autor
00:15:37: David Gilmour vorgestellt hat.
00:15:39: Das Buch wird es sicherlich auch in eurer Bibliothek geben, egal wo er diesen Podcast
00:15:48: hört.
00:15:49: Und an dieser Stelle noch ein Tipp für alle aus der Region und Dresden.
00:15:54: Am 13.
00:15:55: September liest Martin Mosebach aus seinem Buch "Die 21 – Reise ins Land der koptischen
00:16:02: Märtyrer" in der Zentralbibliothek im Kulturpalast Dresden.
00:16:07: Alle Infos dazu findet ihr in den Show Notes und auf der Webseite der städtischen Bibliotheken
00:16:12: Dresden.
00:16:33: Das war der Bücherrausch.
00:16:34: Der Podcast mit Buchempfehlungen abseits der aktuellen Bestsellerlisten.
00:16:39: Wir hoffen es hat euch gefallen.
00:16:41: Wir freuen uns auf eure Bewertungen bei iTunes.
00:16:44: Ihr findet uns auch bei Spotify und auf der Webseite der städtischen Bibliotheken Dresden.
00:16:50: Mein Name ist Marcus Anhäuser.
00:16:53: Bis zum nächsten Mal.
00:16:54: Der Bücherrausch ist eine Produktion von Marcus Anhäuser mit Unterstützung der Städtischen
00:17:17: Bibliotheken Dresden.
00:17:19: Der Titelsong "Please listen carefully" ist von Jazar.
00:17:23: Die Musik dieser Episode stand von den BlueDotSessions.
00:17:27: Alle Informationen und Links zur Musik finden sich in den Informationen zu dieser Folge.
00:17:32: Eine Produktion aus dem Jahr 2019.
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