Leseempfehlung: "1984" von George Orwell

Shownotes

Ein Buchtipp von: Ursula Suwelack, Leiterin Bereich Musik der Zentralbibliothek der Städtischen Bibliotheken Dresden

Titel: 1984

Autor: George Orwell, Diana, Zürich 1950 (deutsche Ausgabe)

Die vorgestellte BücherRausch-Folge: "So kommen die Bücher in die Bibliothek." Folge 1 der 3. Staffel.

Die Musik dieser Folge:

Titelmusik: Please, Listen Carefully von Jahzzar

Musik in dieser Folge von Blue Dot Sessions

Produktion: Aufgenommen und produziert von Marcus Anhäuser, Dresden, 2024

Idee und Konzept: Marcus Anhäuser

Alle Folgen des Podcast finden sich auch auf der Webseite der Städtischen Bibliotheken Dresden.

Mit Unterstützung der Städtischen Bibliotheken Dresden.

Transkript anzeigen

00:00:00: Es ist wirklich harte Kost.

00:00:02: Also gerade so der letzte Teil, der geht einem schon sehr an die Nieren.

00:00:06: Das Buch war damals in der Sowjetunion, in der DDR verboten.

00:00:10: Das Buch darf in Russland nicht verkauft werden.

00:00:13: In China ist es extrem schwierig zu verkaufen.

00:00:16: Es ist gefährlich.

00:00:18: Allein deswegen ist es sehr erschreckend, das Ganze zu lesen, aber unglaublich gewinnbringend.

00:00:23: Hier ist der Bücherrausch.

00:00:25: Listen carefully.

00:00:26: Hallo und willkommen zur neuen Folge des Bücherrausch Podcasts.

00:00:35: Schön, dass ihr wieder mit dabei seid.

00:00:37: In dieser Folge stellen wir euch einen echten Klassiker der Weltliteratur vor.

00:00:41: Es ist eines dieser Bücher, von denen wohl jeder schon mal gehört hat.

00:00:45: Oder zumindest von seiner Hauptfigur, dem Big Brother.

00:00:49: Der Roman ist eine dieser düstere Dystopien, in der eine zutiefst undemokratische Gesellschaft vorgestellt wird.

00:00:56: Mit ihrer totalen Überwachung und dem völligen Unterdrücken auch nur der kleinsten Opposition.

00:01:02: Und obwohl das Buch so düster und destruktiv ist, ist es zum Lieblingsbuch meines heutigen Gast geworden.

00:01:09: Ich wünsche euch trotzdem viel Spaß beim Zuhören.

00:01:12: Mein Name ist Marcus Anhäuser.

00:01:14: [Musik]

00:01:27: Ja, ich heiße Ursula Suvelack.

00:01:30: Ich bin jetzt seit 2021 bei den Städtischen Bibliotheken Dresden.

00:01:35: Ich leite hier den Musikbereich.

00:01:38: Vorher war ich in einem ganz anderen Bereich unterwegs.

00:01:41: Ich bin gelernte Musiktheaterdramaturgin und habe also an Opernhäusern gearbeitet,

00:01:48: habe bei Konzerthäusern, Orchestern gearbeitet, habe da Programme gemacht

00:01:54: und habe dann eben 2021 hier einen kleinen Schnitt- und Quereinstieg gemacht in das Bibliothekswesen.

00:02:02: Gebürtig aus Nordrhein-Westfalen, aus Hagen, und ich war dann in ganz, ganz vielen Städten unterwegs.

00:02:09: Also mich hat es auch mal in die Schweiz verschlagen zwischenzeitlich nach Bayern, nach Potsdam und jetzt eben ins schöne Dresden.

00:02:17: [Musik]

00:02:40: Ich möchte heute gerne einen echten Klassiker vorstellen, 1984 von George Orwell.

00:02:47: Schwere Kost, aber sehr, sehr lesenswert.

00:02:52: [Musik]

00:03:11: Wir leben in einem totalitären Staat, der heißt Ozeanien.

00:03:15: Und in diesem Staat wird alles überwacht, jeder Schritt, den man tut, jedes Ding, das man sagt.

00:03:22: Noch schlimmer eigentlich jedes Ding, das man denkt.

00:03:25: Es kriegen ständig Leute um einen herum mit.

00:03:28: Es kriegt aber auch nicht nur vielleicht die Person, die neben mir steht oder sitzt mit, sondern auch ein, also Telescreens.

00:03:36: Es wird überwacht über so Bildschirme, die überall hängen.

00:03:40: Also in jeder Wand, in jedem Haus ist das vorgeschrieben, dass man so einen Bildschirm hängen hat.

00:03:45: Und die großen Poster, die überall hängen.

00:03:48: Also es gibt eine Person, die ist Machthaber in Ozeanien, die heißt Big Brother.

00:03:54: "Big Brother is watching you" ist also aus diesem Buch raus.

00:03:58: Und von dem hängen überall in der ganzen Stadt riesige Plakate mit Augen, die einem überall hinfolgen können.

00:04:06: [Musik]

00:04:12: Und es gibt also tatsächlich die Straftat, die größte, die man begehen kann in diesem totalitären Staat, ist Gedankenverbrechen.

00:04:20: Dafür kann man ja meistens verschwindet man dann von einem Tag auf den anderen.

00:04:26: Es weiß niemand, was mit einem passiert ist.

00:04:29: Und es gibt natürlich Vermutungen, was passiert, dass man vielleicht in das Ministerium der Liebe gebracht wird.

00:04:36: Es gibt auch manche Leute, die öffentlich hingerichtet werden, aber das ist der eher kleine Teil.

00:04:41: Und das Erschreckendste ist, die Personen, die verschwinden, die sind quasi nicht existent.

00:04:48: Also die sind nicht nur nicht existent im Nachhinein, sondern auch im Vorfeld.

00:04:52: Das heißt, die haben nie existiert, man darf über die auch nicht mehr sprechen.

00:04:56: Es ist also ein ganzer Propaganda-Apparat, der arbeitet für diesen Big Brother und der eben zuschaut, dass da niemand abtrünnig wird.

00:05:07: Die gefährlichsten Personen eigentlich, die es gibt, sind die eigenen Kinder, weil die einen verraten können.

00:05:14: Die meisten davon sind in der Armee der Spione organisiert.

00:05:18: Und das passiert also recht häufig, dass die die Eltern dann verraten.

00:05:22: [Musik]

00:05:52: George Orwell ist ein Pseudonym. Er heißt Eric Arthur Blair oder hieß Eric Arthur Blair.

00:06:00: Er ist ein englischer Schriftsteller, Journalist, hat zu Beginn seiner Berufskarriere im Burmese-Polizeidienst gearbeitet

00:06:10: und ist dann 1936 freiwillig in den Spanischen Bürgerkrieg gegangen.

00:06:15: Man hat dort auf der Seite der Republikaner gekämpft und hat dann selber mitbekommen, wie das Ganze so einen Schwenk kriegte

00:06:22: und wie dann irgendwann sowjetische Agenten angefangen haben dort Säuberungen in wirklich installinistischer Manier durchzuführen.

00:06:32: Er war da auch selber gefährdet und musste dann wieder fliehen nach England.

00:06:37: Man hat dort unter sehr prekären Verhältnissen gelebt, hat dort ein bisschen für die BBC gearbeitet,

00:06:44: als Buchkritiker für Zeitungen gearbeitet und hat dann angefangen, Sozialreportagen zu verfassen,

00:06:51: wo er sich insbesondere mit dem stalinistischen deutschen Propaganda und dem Unterdrückungsregime auseinandergesetzt hat,

00:07:00: hat dann auch ein Buch verfasst dazu, also vor allem über seine Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg

00:07:07: und hat sehr Schwierigkeiten gehabt, dieses Buch an einen Verlag zu bringen.

00:07:11: Das hat sich dann niemand getraut, rauszubringen und hat dann so 1944/45 gemerkt,

00:07:17: es gibt doch Bücher, die diese Themen auch behandeln, aber dann in Form eines Romans.

00:07:22: Und das verkauft sich besser oder einfacher, das ging also etwas besser.

00:07:27: Und darauf entstanden dann seine zwei wichtigsten und bekanntesten Werke, "Die Farm der Tiere" und "1984".

00:07:36: "1984" ist eigentlich ein Zahlenspiel, weil er es 1948 geschrieben hat und dann sozusagen eben die Zahlen verdreht hat,

00:07:45: um diese wirklich sehr düstere Zukunftswelt da sich und den Lesern vorzustellen.

00:07:52: Und er ist kurze Zeit drauf gestorben, also er hat das geschrieben, als er wirklich schon sehr, sehr schwer krank war,

00:07:57: hatte sein ganzes Leben lang immer wieder Tuberkulose und Lungenentzündung und ist dann kurze Zeit später gestorben.

00:08:04: [Musik]

00:08:31: Es gibt eine Hauptfigur, der wir die ganze Zeit folgen, die heißt Winston Smith.

00:08:40: Und Winston Smith, das erfahren wir direkt zu Anfang, hasst Big Brother.

00:08:45: Also er ist eine Person, die hat Erinnerungen an frühere Zeiten.

00:08:50: Als er ein Kind war, erinnert er sich da an gewisse Dinge.

00:08:55: Er erinnert sich zum Beispiel an seine kleine Schwester, an seine Mutter, die aber, das erfährt man nicht ganz, was mit denen passiert ist.

00:09:03: Also die waren auf einmal weg. Er hat Träume innerhalb dieses Romans, wo er so ein bisschen wieder sich in Erinnerung ruft, was damals passiert ist.

00:09:13: Das Problem ist, dass er das ja eigentlich gar nicht darf, weil laut eben offizieller Doktrin, die ja nie existiert haben.

00:09:21: Und er möchte das aber nicht. Er möchte quasi gegen das Vergessen arbeiten und gegen Big Brother arbeiten.

00:09:27: Und er beginnt den subversiven Akt des Tagebuchschreibens, was verboten ist, also nicht offiziell.

00:09:35: Es gibt überhaupt gar kein Strafgesetzbuch oder sowas da in Ozeanien, aber es wissen natürlich alle, dass man kein Tagebuch schreiben darf.

00:09:43: Und er beginnt es aber trotzdem in einem, wie er meint, unbeobachteten Moment und er möchte da eben diese Dinge festhalten.

00:10:08: Er entdeckt Widersprüche in dem System, was auch mit seinem Beruf zu tun hat. Das ist tatsächlich was, was ihm Freude macht.

00:10:16: Sein Beruf im Ministerium der Wahrheit und in diesem ist er damit Tag aus Tag einbeschäftigt, früher erschienene Zeitungsartikel neu zu schreiben.

00:10:29: Sodass auch in der Vergangenheit nichts mehr existiert, was irgendwie sich in der Gegenwart als falsch herausstellt.

00:10:38: Also wenn zum Beispiel mal eine Prognose oder sowas eine Zahl falsch war, dann wird die korrigiert.

00:10:43: Und das Alte, was dann eben war, das wird in ein Erinnerungsloch rein geworfen.

00:10:49: Also das gibt es dann nicht mehr und es gibt dann in den Archiven wirklich nur noch das, was dann eben neu verfasst wurde.

00:10:55: Das ist seine Stelle, die er da hat, die ihm eigentlich Freude macht.

00:11:00: Er sucht nach der sogenannten Bruderschaft. Es gibt da so eine Erzählung, dass es eben diese Bruderschaft gibt, also eine Organisation,

00:11:08: die diesen Big Brother stürzen möchte, die von seinem rivalen Goldstein mit gegründet wurde.

00:11:16: Er beginnt eine verbotene Liebesbeziehung mit einem Bruder.

00:11:43: Er beginnt eine verbotene Liebesbeziehung mit Julia. Das ist die zweite Hauptfigur in dem Roman.

00:11:50: Die ist verboten, weil Winston offiziell noch verheiratet ist, unter anderem.

00:11:55: Aber es sind auch sowieso Liebesbeziehungen zwischen dieser hohen Klasse, sind auch sowieso sehr schwierig.

00:12:01: Julia ist sehr geschickt darin, so eine Regiebetreue vorzuspielen, aber schaut, dass sie eben zwischen dem, was erlaubt ist,

00:12:10: sich so ganz gut und geschickt durchlaviert. Aber sie lässt sich von Winston dann auch überzeugen,

00:12:16: dass sie mitarbeitet und die beiden eben versuchen, sich dieser Bruderschaft anzuschließen.

00:12:22: [Musik]

00:12:41: Es gibt eine dritte Person, die sehr wichtig ist, die heißt O'Brien.

00:12:45: Und diesen O'Brien kennt Winston hauptsächlich vom Sehen aus seiner Arbeit, hat das Gefühl, mit dieser Person eine gewisse Verbundenheit zu spüren

00:12:55: und meint, dieser O'Brien könnte auf seiner Seite sein oder vielleicht sogar jemand Wichtiges sein in dieser sogenannten Bruderschaft.

00:13:04: Mit ihm nimmt er dann Kontakt auf und dann gehen tatsächlich Winston und Julia zu O'Brien.

00:13:11: Und dort erzählt er also, ja, er ist Teil dieser Bruderschaft und die beiden schwören also ewige Treue zur Bruderschaft

00:13:20: und bekommen dann auch noch so ein Buch mitzulesen, was so als Standardlektüre gilt und sind dann sozusagen Teil auch der Bruderschaft.

00:13:29: Ja, und dann passiert ein ganz unglaublicher Moment und ab da möchte ich es gerne belassen mit der Vorerzählung.

00:13:36: [Musik]

00:13:51: Es gibt so ein Gedicht, das eine Rolle spielt, so ein Mehrzeiler, bei dem sich Winston an die Glocken von den unterschiedlichen Kirchen in London erinnert.

00:14:01: Und das ist auch ein Gedicht, was ihm im Laufe der Geschichte immer stärker einfällt und wo dann tatsächlich dieser O'Brien bei dem Treffen

00:14:10: die letzten Strophen oder die letzten Verse ergänzen kann. Und das ist so ein bisschen auch so ein Motiv, das sich durchzieht,

00:14:18: dass man wusste, ja, da gab es mal was, da existierte mal ein London quasi vor Big Brother und vor diesem Start.

00:14:26: Und da gab es eben Kirchen und da war es auch grün und da durfte man sich auch treffen, wann man wollte und wie man wollte.

00:14:32: Aber das ist wirklich in Inferne.

00:14:35: [Musik]

00:14:58: Das Unheimlichste ist, man weiß einfach nicht, wer gehört zum Regime und wer nicht. Und es könnte jederzeit jeder einen verraten.

00:15:10: Und das ist irgendwie das, was die aufgebaut haben, auch über diese Bildschirme. Man weiß nicht, ob die nur senden oder auch schauen.

00:15:19: Oder wann die schauen und wann die senden. Und man denkt vielleicht, man ist gerade unbeobachtet, ist man aber gar nicht.

00:15:27: Und das ist dieser Machtapparat, der da aufgebaut wurde, der wirklich total ist.

00:15:33: Also der gerade in den kleinen Kindern, die ihre Eltern ganz genau beobachten, was wir dann auch erfahren, was auch passiert im Lauf des Buches,

00:15:43: dass jemand von seinen Kindern denunziert wird, für eigentlich nichts. Und das ist das, was so zersetzt.

00:15:52: [Musik]

00:16:09: Es gibt eine eigene Sprache tatsächlich, die noch nicht flächendeckend benutzt wird. Die Sprache dort heißt Neusprech. Und die ist eigentlich so, dass sie vereinfacht.

00:16:22: Also es gibt gut, besser, am besten gibt es zum Beispiel nicht, sondern es gibt gut und ungut und doppelplus gut.

00:16:31: Also es gibt eigentlich immer nur einen Wortstamm. Es wird auch sehr viel dann zusammengezogen an Wörtern. Und das soll eben machen,

00:16:39: dass wirklich das Denken und das Sprechen auch vereinfacht werden. Und dass man eigentlich sowas wie zwischen den Zeilen sprechen oder zwischen den Zeilen denken,

00:16:50: dafür gibt es ein Wort, das heißt Doppeldenk, das soll es dann irgendwann nicht mehr geben. Also es ist aber auch da wieder ein bisschen witzig.

00:17:00: Es wird gerade eine neue Fassung des Wörterbuchs erarbeitet von diesem Neusprech. Und die wird aber nie fertig.

00:17:07: Also der wird schon ewig gearbeitet. Und das ist auch immer wieder Thema innerhalb des Buches, dass das einfach so ein großes Projekt ist, dass das noch nicht ganz fertig ist.

00:17:16: Also man bewegt sich auch da immer so ein bisschen auf glitschigem Terrain, was die Sprache angeht.

00:17:22: Das würde ich gerne vorlesen. Und zwar gibt es ein Instrument in diesem Ozeanien, das heißt Hasswoche.

00:17:46: Die Hasswoche ist was, auf die wird lange hingearbeitet. Insofern als dass man die Personen schon relativ lange darauf vorbereitet.

00:17:55: Emotional, also die Aufzüge funktionieren nicht, die Schokoladenration wird gekürzt etc. Also man macht schon mal so eine Grundaggression sozusagen.

00:18:04: Und alle basteln also Transparente und Banner und welches Haus ist am besten, welcher Block ist am besten geschmückt.

00:18:11: Damit zeigt man auch Regimtreue, dass man also wirklich sich gut vorbereitet für diese Hasswoche.

00:18:17: Und es geht hauptsächlich darum, Ozeanien ist angeblich schon immer im Krieg mit Eurasien. Das ist quasi die andere große Nation.

00:18:26: Es gibt noch eine dritte, die heißt Ostasien. Es soll also wirklich ein richtiger Hass auf Eurasien, auf diesen Kriegsgegner da geschürt werden.

00:18:35: Und der Höhepunkt des Ganzen ist dann quasi die öffentliche Hinrichtung von ganz vielen eurasischen Kriegsgefangenen.

00:18:41: Wir sind also inmitten dieser Hasswoche und inmitten dieser Hasswoche kommt auf einmal die Nachricht, es ist nicht Eurasien, mit dem wir im Krieg sind, sondern Ostasien.

00:18:52: Und wir waren schon immer im Krieg mit Ostasien.

00:18:55: Natürlich gab es kein Eingeständnis irgendeiner Veränderung der Lage. Es wurde lediglich ganz plötzlich und überall zugleich bekannt, dass Ostasien und nicht Eurasien der Feind sei.

00:19:08: Winston nahm gerade an einer Demonstration auf einem von Londons zentralen Plätzenteil als dies geschah.

00:19:15: Es war Nacht und die weißen Gesichter und roten Banner wurden von grellem Flutlicht angestrahlt.

00:19:21: Auf dem Platz drängten sich mehrere tausend Leute, darunter ein Block von etwa tausend Schulkindern in der Uniform der Spione.

00:19:29: Auf einem rot drapierten Podium peilchte ein Redner der inneren Partei die Menge auf.

00:19:35: Es war ein kleiner Dörrermann mit überlangen Armen und großem Schädel, über den sich ein paar dünne Strähnen verteilten.

00:19:43: Eine kleine Rumpelstilchengestalt verzerrt von Hass. Mit einer Hand umklammerte er den Hals des Mikrofons, während die andere riesig am Ende eines knochigen Arms drohend in die Luft über seinem Kopf krallte.

00:19:58: Seine Stimme über die Lautsprecher von metallischem Klang bellte einen endlosen Katalog an Gräueltaten hinaus. Massaker, Deportationen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Folterung von Gefangenen und Bombardierung von Zivilisten, lügenhafte Propaganda, unmotivierte Aggressionen, gebrochene Verträge.

00:20:21: Es war nahezu unmöglich ihm zuzuhören, ohne zuerst überzeugt und dann rasend zu werden. Alle paar Momente kochte der Volkszorn über und die Stimme des Redners wurde von einem wilden, tierischen Gebrüll übertönt, das ungehemmt aus Tausenden von Kehlen stieg.

00:20:39: Das wüsteste Geschrei überhaupt kam von den Schulkindern. Die Rede hatte vielleicht 20 Minuten gedauert, als ein Bote aufs Podium eilte und dem Reden ein Stück Papier in die Hand drückte.

00:20:53: Er entfaltete es und las es ohne seine Rede zu unterbrechen. An seiner Stimme oder Haltung endete sich nichts, auch nicht am Inhalt dessen, was er sagte. Aber plötzlich waren die Namen andere.

00:21:08: Ohne dass weitere Worte gefallen wären, lief plötzlich eine Welle des Begreifens durch die Menge. Ozeanien befand sich im Krieg mit Ostasien. Im nächsten Moment brach ein ungeheurer Tumult los.

00:21:23: Die Banner und Plakate, die den Platz schmückten, waren völlig falsch. Gut die Hälfte von ihnen zeigten die falschen Gesichter. Es war Sabotage. Goldsteins Agenten waren am Werk gewesen.

00:21:37: Es gab ein entfesseltes Zwischenspiel, in dem Plakate von Mauern gerissen, Banner zerfetzt und zertrampelt wurden.

00:21:44: Spione vollbrachten wahre Kunststücke, in dem sie über die Dächer kletterten und Wimpel abschnitten, die an den Kaminen flatterten. Aber nach zwei oder drei Minuten war alles vorbei.

00:21:54: Der Redner, immer noch den Hals des Mikrophones umklammernd, die Schultern vorgeschoben, die freie Hand in die Luft krallend, hatte einfach seine Rede fortgesetzt.

00:22:03: Eine Minute später brach das wütende Raubtiergebrüll wieder aus der Menge hervor. Der Hass ging unverändert weiter. Nur das Ziel war ausgetauscht worden.

00:22:13: Das ist das, was ich so schätze an diesem Buch, dass es so gut beobachtet und so böse und gleichzeitig aber auch sehr komische Momente hat.

00:22:34: Weil diese Stelle unglaublich gut die Mechanismen von Propaganda zeigt, wie einfach es ist, eine Menge auf die eigene Seite zu ziehen und wie wahnsinnig austauschbar das Ziel ist, um das es geht.

00:22:48: Also es geht hier eigentlich darum, eine Menge aufzustacheln und es ist völlig egal gegen wen. Es ist nur wichtig, dass alle zusammen sind und da sich dieses "Wir"-Gefühl sozusagen stärkt.

00:23:00: Und dass man dadurch die Personen eben auf den eigenen Machthaber einschwört. Und es ist einfach schriftstellerisch so wahnsinnig gut gelungen, das einzufangen, diese Mechanismen, dieser völlig absurde Chaos-Moment da zwischendrin, wo alles völlig entfesselt ist und jeder reißt irgendwo was runter und man hatte wirklich Wochen in die Vorbereitung gesteckt und auf einmal sind alle Plakate falsch, aber es ist völlig egal.

00:23:27: Also man findet sich dann wieder und dann ist der Hass noch wieder da, aber dann eben auf jemand anderen. Und das finde ich irre beschrieben.

00:23:51: Das Buch ist einfach mein Allzeitlieblingsbuch, muss ich sagen. Also ich habe es jetzt zum dritten oder vierten Mal gelesen, weiß nicht ganz. Ich habe es schon relativ früh gelesen. Es war auch so ein Schulliteratur-Fund, wobei wir es nicht in der Schule selber gelesen haben, sondern ich darüber nur gehört habe.

00:24:11: Ich habe es jetzt auch zum ersten Mal überhaupt auf Deutsch gelesen. Ich habe es sonst eigentlich nur auf Englisch gelesen und habe es darüber eben über den Englischunterricht auch gefunden. Und es ist einfach ein Buch, was mich seitdem nicht losgelassen hat und wo ich auch denke, also es ist wirklich harte Kost.

00:24:29: Es ist teilweise wirklich schwer zu lesen, also gerade so der letzte Teil, der geht einem schon sehr an die Nieren. Aber ja, es ist natürlich auch was, wo ich um die Geschichte weiß des Buchs. Also ich weiß, dass es real existierende Hintergründe davon gibt.

00:24:48: Das Buch war damals in der Sowjetunion, in der DDR verboten. Das Buch ist heute in Russland und in Belarus verboten bzw. darf in Russland nicht verkauft werden. Es ist offiziell nicht verboten.

00:25:00: In China ist es extrem schwierig, das Buch zu verkaufen. Es ist gefährlich. Allein deswegen ist es wirklich sehr erschreckend, das Ganze zu lesen, aber unglaublich gewinnbringend.

00:25:13: Also journalistisch würde ich nicht unbedingt sagen, dass es eine sehr klare Sprache ist. Also es ist nicht besonders blumig und es ist sehr auf den Punkt beschrieben.

00:25:36: Man sieht schon den Hintergrund der Sozialreportage, aus der Orwell da kommt. Er hält sich da nicht viel an Kleinigkeiten auf. Es schreibt schon sehr direkt, was er sagen möchte.

00:25:49: Es gelingt ihm aber wahnsinnig gut, Bilder zu evozieren. Ich habe wirklich ein Bild von dieser Nachtaktion da zum Beispiel im Kopf oder auch Gerüche, Geschmäcker. Das spielt eine riesen Rolle in dem ganzen Buch.

00:26:03: Es wird direkt beschrieben, wie es riecht. Es riecht überall irgendwie unangenehm und alt und modrig. Es fällt alles auch ein bisschen auseinander. Die Menschen trinken also auch tagsüber so einen ganz billigen Gin. Überall riecht es nach diesem billigen Fusel, so ein bisschen nach Klebstoff. Man kann sich dieses Ozeanien sehr plastisch vorstellen.

00:26:29: Also ich war damals glaube ich 16 oder 17, als ich es gelesen habe und ich glaube, man muss es nicht unbedingt früher lesen. Es ist vielleicht sogar eine Art von Brutalität.

00:26:51: Heute Jugendliche lesen durchaus auch ähnlich Brutales, aber diese Brutalität ist ja real. Und das ist einfach eine Art, das muss man schon verarbeiten können, denke ich. Ansonsten würde ich das uneingeschränkt jeder Person sehr ans Herz legen.

00:27:09: Das war Ursula Zuvallak, die uns den Roman 1984 von George Orwell aus dem Jahr 1984 in der "Germany" veröffentlicht hat.

00:27:24: Die Infos zum Buch stelle ich euch wie immer in die Show Notes. Den Roman gibt es sicher auch in eurer Bibliothek, egal woher ihr diesen Podcast hört.

00:27:40: Und wenn ihr mal wissen wollt, wie solche Bücher eigentlich in die Bibliothek kommen, hört doch mal in Folge 1 der dritten Staffel ein.

00:27:55: Da könnt ihr mir auf den Wegen durch die Bibliothek folgen, auf denen mir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der städtischen Bibliotheken erklären, was alles passieren muss, bis ein Buch im Regal am richtigen Platz steht.

00:28:11: Wir folieren es voll.

00:28:25: Das sieht halt ordentlicher aus, gerade bei den Romanen, die noch mal einen extra Umschlag haben, den wir natürlich erhalten wollen, weil da ist ein schönes Cover drauf. Wenn man den Umschlag abmacht, ist das Buch einfach nackig. Und das sieht nicht schön aus.

00:28:46: Und trotzdem werden lange nicht alle Bücher vollfoliert. Manchmal möchten die Zweigstellen gerne was vollfoliert haben, wo wir sagen, tut mir leid, da kostet die Folie zu viel.

00:28:58: Und damit sind die Bücher fertig. Transponder, Etiketten, Signaturschild und die Schutzfolie. Auf zur letzten Etappe.

00:29:06: Wir liefern es dann aus. In dem Packraum, da hat jede Zweigstelle das Fach. Das wird für eine Woche gesammelt und dann wird das an einen Tag, meistens am Dienstag, dann ausgeliefert an die Zweigsteller. Da freuen sie sich immer ganz sehr.

00:29:19: Das war ein Ausschnitt aus Folge 1 der dritten Staffel über den Weg der Bücher in die Regale der Bibliotheken. Den Link zur Folge findet ihr in den Show Notes.

00:29:28: Und das war der Bücherausch Podcast der städtischen Bibliotheken Dresden für dieses Mal. Schön, dass ihr dabei wart. Empfehlt uns bitte weiter oder bewertet die Folgen bei Apple Podcasts oder Spotify oder wo immer ihr uns auch hört.

00:29:40: Mein Name ist Marcus Anhäuser. Macht's gut und bis zum nächsten Mal.

00:29:44: Der Bücherausch ist eine Produktion von Marcus Anhäuser Dresden. Die Titelmelodie "Please Listen Carefully" ist von Jazaar. Die Musik in jeder Episode stand von Blue Dot Session.

00:30:12: Eine Produktion aus dem Jahr 2024.

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